"Albus, wir müssen einen Spezialisten zu Rate ziehen. Ich bin am Ende meiner Weisheit."
Madame Pomfrey schaute auf ihren unruhig schlafenden Patienten herunter und seufzte. Von Zeit zu Zeit erwachte er und öffnete seine Augen, aber er hatte bisher noch keinerlei Anzeichen einer bewussten Reaktion gezeigt. Nicht das leiseste Aufglimmen von Erkennen oder die kleinste Andeutung von klarem Verstand. Die Wachphasen - wenn man diese überhaupt so nennen konnte - waren etwas länger geworden, aber das war schon die ganze, wahrnehmbare Verbesserung von mehr als zwei Wochen. Der junge Zauberer schien noch immer große Schmerzen zu haben, da er oft im Schlaf anfing zu wimmern und zu stöhnen, und das Zittern und die Spasmen hatten auch noch nicht völlig aufgehört. Aber sie konnte sich nicht dazu durchringen ihm starke Schmerzmittel zu geben. Sein Organismus musste ohnehin schon mit allzu vielen Heiltränken zurecht kommen. Zusammen hatten sie einen Zeitplan aufgestellt, so dass immer jemand bei ihm sein konnte, und die Medihexe hatte den Eindruck, dass Severus ruhiger war, wenn jemand, dem er vertraute, zu ihm sprach, aber da dies nur lächerliche drei Personen waren, hatten die langen Krankenwachen diese auserwählten drei inzwischen ziemlich ausgelaugt. So konnte es auf die Dauer nicht weitergehen, und schon gar nicht, wenn die Schule am Montag wieder anfing - nach dem trübseligsten Weihnachten, das sie je erlebt hatte. Dumbledores Versuche, fröhlich und munter zu erscheinen, waren jämmerlich fehlgeschlagen, und nicht einmal der kleine Professor Flitwick zeigte seinen üblichen Sinn für die Festlichkeiten.
Auch die wenigen Schüler, die über die Ferien in Hogwarts geblieben waren, waren ungewöhnlich still gewesen. Ausnahmsweise war Harry Potter dieses Jahr nicht darunter. Er hatte vom Direktor die Erlaubnis bekommen, die Ferien bei den Weasleys im Fuchsbau zu verbringen, nachdem das Haus unauffindbar gemacht worden war. Zum Erstaunen aller war Miss Granger nicht mit ihren besten Freunden zusammen fortgefahren und hatte auch nicht ihre Eltern besucht, sondern blieb in der Schule. Sie war tagelang damit beschäftigt gewesen, die Eigenschaften von Einhornblut zu studieren, obwohl Remus Lupin es fast sofort aufgegeben hatte. Er hatte erklärt, dass, wenn nicht einmal Firenze etwas genaues wusste, es keiner wissen konnte. Eine einleuchtende Annahme. Trotzdem hatte Hermine einige glaubhafte Hinweise darauf gefunden, dass es tatsächlich das Töten des Einhorns war, nicht das Trinken des Blutes, das den Fluch auf die Person herab beschwor.
Allerdings war dies jetzt kaum ein Trost. Wenn Severus für immer den Verstand verloren hatte, dann würde er ohnehin nicht mehr als ein halbes Leben führen können, ein halbes Leben in der geschlossenen Abteilung von St. Mungos zusammen mit den Longbottoms und Gilderoy Lockhart. Keine sehr ermutigenden Aussichten.
Draco Malfoy hatte Weihnachten ebenfalls in Hogwarts verbracht. Er war jeden Tag vorbei gekommen, um seinen Hauslehrer zu besuchen, aber aus Gründen, die der Medihexe unbekannt waren, schien Severus seinem Schüler nicht zu vertrauen. Wann immer der Junge etwas zu ihm sagte, zuckte der Kranke zusammen und zeigte Anzeichen von Panik. Deshalb saß der blonde Slytherin einfach eine Weile am Krankenbett und verließ dann den Raum so leise wie er gekommen war.
"Ein Spezialist? Halten Sie das wirklich für notwendig, Poppy?", fragte Dumbledore. Jedoch kannte er die Antwort bereits. All die Wochen hatte er bewusst die Augen vor der Realität verschlossen und sich wieder und wieder eingeredet, dass Severus seine geistigen Fähigkeiten zurück erlangen würde, aber je mehr Zeit verstrich, desto schwieriger wurde es, diese Selbsttäuschung aufrecht zu erhalten.
Madame Pomfrey nickte resolut. "Ja, Albus, es gibt keinen anderen Ausweg."
"So sei es dann also. Ich werde gleich Morgen Früh St. Mungos kontaktieren."
Nie zuvor hatte der Direktor so müde und niedergeschlagen ausgesehen wie bei diesen Worten.
***
"Was sagen Sie, Professor Hippocampus, besteht noch Hoffnung für Professor Snape?", fragte Madame Pomfrey ihren Kollegen, nachdem er den komatösen Patienten eingehend untersucht hatte.
"Ich möchte nicht übermäßig pessimistisch klingen, wirklich nicht. Aber ich muss sagen, dies ist bei weitem der schlimmste Fall von Cruciatus induziertem Wahnsinn, der mir je untergekommen ist", antwortete der alte Heiler ernst, "und ich habe während der Grindelwaldkriege und unter Du-Weißt-Schon-Wers erster Herrschaft so einiges gesehen." Er war auch derjenige, der die Longbottoms jahrelang behandelt hatte. Noch ein letztes Mal ließ er seinen Zauberstab über die Stirn des schlafenden Zauberers gleiten, dann schüttelte er bedauernd seinen Kopf. "Es tut mir aufrichtig leid dies sagen zu müssen, aber es gibt nicht die geringste Chance, dass er aus diesem Koma je wieder erwacht. Weite Bereiche seines Gehirns wurden durch die Intensität der Cruciatus-Schmerzen abgeschaltet, und nur die banalsten Strukturen funktionieren noch. Ich fürchte, Ihr Professor ist in den Erinnerungen an die Folter und die Schmerzen gefangen, und es bräuchte schon ein wahres Wunder, um dies zu ändern." Tiefe Stille folgte dieser vernichtenden Diagnose. "Ich würde Ihnen wärmstens empfehlen, den Patienten nach St. Mungos überführen zu lassen", fuhr der Heiler fort. "In unserer Einrichtung wird er von erfahrenen Heilern und Pflegern versorgt, und Sie können ihn besuchen so oft Sie wollen. Es wäre zum Besten für Sie und Ihren jungen Kollegen."
"Wir werden darüber nachdenken", sagte Dumbledore zögerlich. "Ich werde Sie von unserer Entscheidung in Kenntnis setzen, Doktor. Und ... vielen Dank." Dies war es also, was der Dunkle Lord für den Verräter geplant hatte. Gefangen in einem endlosen Zustand des Schmerzes und der Angst in einem reaktionslosen Körper über ... Jahre? Jahrzehnte? Und zur gleichen Zeit war es auch eine Strafe für Dumbledore und alle, die sich um den Jungen sorgten. Ihn so leiden zu sehen ... das war schlimmer als der Tod. Eine plötzliche Welle brennenden Hasses überkam den alten Direktor in einer Intensität, wie er es niemals zuvor erlebt hatte und wie er es bei sich auch nie für möglich gehalten hätte. Voldemort würde dafür bezahlen. Er würde dafür sorgen, dass er dafür bezahlt, und wenn er das Monster mit seinen eigenen blanken Händen erwürgen mußte ...
***
"Sie haben gesagt, Teile seines Gehirns seien durch den Cruciatus abgeschaltet worden? Nicht zerstört?", fragte Hermine den blonden Slytherin, der zu seiner täglichen Visite in den Krankenflügel gekommen war, nur um durch die leicht geöffnete Tür die schicksalsschweren Worte des Heilers mit anzuhören. Draco nickte düster. "Dann muss es einen Weg geben, sie wieder anzuschalten", murmelte das Mädchen, während es gedankenverloren auf ihrer Lippe herum kaute. "Draco, ich glaube, es ist mal wieder Zeit für Nachforschungen in der Bibliothek. Muggel-Bibliothek", fügte sie mit einem schelmischen Glitzern in den Augen hinzu. Sie würde ihm schon zeigen, dass Muggels nicht vollkommen hirnlos und ohne Nutzen waren ...
***
"Hermi, du willst dich doch nicht etwa wieder mit Malfoy treffen?!", rief ihr rothaariger Freund hitzig. "Ich kann es wirklich nicht glauben. Wie oft hat dich der arrogante Mistkerl ‚Schlammblut' genannt, heh? Hast du das schon ganz und gar vergessen? Und was war mit dem Densaugio Fluch? Dies ist Fies-Und-Gemein-Grins-Malfoy!"
"Beruhige dich, Ron. Wir lesen uns nur in die Behandlung des apallischen Syndroms ein - um Professor Snape zu helfen. Meine Mum hat mir bergeweise Bücher und medizinische Fachzeitschriften darüber geschickt, und Draco ist eine große Hilfe. Er ist ziemlich intelligent, weißt du."
"Was man wohl kaum von einem gewissen Karottenkopf sagen kann", höhnte der blonde Slytherin, der leise zum Gryffindor-Tisch gekommen war. "Ich nehme an, dein Kopf würde schon nach nur einer halben Seite von ‚Neueste Erkenntnisse der Neuropsychologie' anfangen zu qualmen. Nicht, dass es nicht sowieso schon aussieht, als ob er brennt ..."
"Hau ab oder ich hex dich in die nächste Woche, Frettchen!"
Hermine rollte vor Verzweiflung mit den Augen. Diese beiden würden wohl nie miteinander auskommen, und zwischen Harry und Draco sah es auch nicht besser aus, auch wenn sie nun für die gleiche Seite kämpften. Genau wie Sirius und Snape. Und sie saß mal wieder zwischen allen Stühlen ...
Draco beehrte seinen Rivalen mit einem seiner arrogantesten Blicke. "Das würdest du dich gar nicht trauen, Wiesel, jetzt, wo Potty ständig mit dieser ausgeflippten Ravenclaw rumhängt. Wie war ihr Name noch gleich? - Loony Lovegood, nicht wahr? Nette Kombination, die durchgeknallte Lovegood und der wahnsinnige Potter. Sie kommen bestimmt auf die Titelseite der Hexenwoche, wenn sie heiraten - als ‚Irres Paar des Jahres'."
Rons Gesicht nahm eine hässlich rote Farbe an. Malfoy hatte einen unden Punkt bei ihm getroffen. Sein bester Freund hing tatsächlich viel öfter mit seiner neuen - oder genauer gesagt ersten - Freundin herum, als ihm lieb war. Harry hatte sogar einmal das Quidditch-Training vergessen! Und Ron fühlte sich wie das fünfte Rad am Wagen, wenn er mit ihnen zusammen war. Nicht, dass er Luna nicht mochte. Aber es tat einfach weh, seinen besten Freund an ein Mädchen zu verlieren. Und um dem ganzen die Spitze aufzusetzen, hatten sich die beiden auch noch bei ihm zu Hause im Fuchsbau verknallt. Nachdem Lunas Vater nicht von einer seiner Expeditionen - er war auf der Suche nach dem legendären, kartoffelfressenden Monster gewesen, das in einem der großen Seen in Nordschweden leben soll - zurückgekehrt war - das Monster war wohl doch kein Vegetarier - hatten die Weasleys Luna über die Weihnachtsferien eingeladen. Und jetzt ließ ihn auch noch seine Hermi im Stich, ausgerechnet wegen Draco Malfoy! Schlimmer konnte es nicht mehr kommen - oder doch? Merlin, Snape könnte geheilt werden und wieder unterrichten. Malfoy und Hermine arbeiteten schon daran. Und wie er Hermine kannte, würde sie erst Ruhe geben, wenn der fettige Idiot von den Toten zurückgekehrt und wieder sein bösartiges Selbst war. Dass Snape irgendein Zeichen der Dankbarkeit gegenüber seinen Gryffindor-Rettern zeigen würde, stand wohl nicht zur Debatte, da war sich Ron sicher. Frustriert schnaubte er auf.
"Ich fürchte, wir werden heute wohl keinen halbwegs intelligenten Kommentar mehr vom Wiesel bekommen. Gehen wir in die Bibliothek, Hermine." Das Mädchen schaute entschuldigend zu Ron, bevor sie mit ihrem früheren Feind den Raum verließ. Manchmal könnte sie Draco für seine Arroganz ohrfeigen. Jedoch hatte sie in den Ferien zu ihrem größten Erstaunen eine ganz andere Seite des überheblichen Slytherins kennengelernt, und was sie entdeckt hatte, hatte ihr sehr gefallen. Endlich hatte sie jemanden gefunden, der sich in Sachen Intelligenz mit ihr messen konnte ...
Mit einem erneuten Schnauben verließ Ron die Große Halle und machte sich auf den Weg zum Quidditch-Feld, um seinen brodelnden Ärger auszuschwitzen. Er würde es ihnen schon zeigen. Er würde der beste Torwart werden, den es je in der Geschichte der Zaubererwelt gegeben hat. Und da Hermine sich nicht im geringsten für Quidditch interessierte, passten sie vielleicht sowieso nicht besonders gut zusammen. Schließlich gab es noch andere Mädchen. Wie hieß diese unglaublich blonde Hufflepuff-Jägerin noch mal? Silene Grünblatt? Er könnte sie fragen, ob sie nächsten Samstag mit ihm nach Hogsmeade gehen möchte, oder? Und diesmal würde er nicht rot werden oder stottern.
Nachdem er diesen Entschluss gefasst hatte, stieg er auf seinen Übungsbesen und schwang sich in die Lüfte.
***
"Mist, das hilft alles nicht. Diese Behandlung würde jahrelang dauern, und der Erfolg ist eher ungewiss. Nicht mehr als etwa dreißig Prozent der Patienten sprechen überhaupt darauf an, und von einer vollständigen Heilung wird nur in Ausnahmefällen berichtet. Ich fürchte, Muggel-Medizin ist, wenn es um Komapatienten geht, auch nicht besser als die der Zauberer", klagte Hermine, wobei sie kaum ihr Gähnen unterdrücken konnte. "Ich glaube, ich höre auf für heute und gehe ins Bett. Ich bin hundemüde, und wir haben den ganzen Tag nichts gefunden. Schon wieder."
"Warte, Hermine, ich glaube, ich hab da was. Dies hier klingt interessant." Draco zeigte auf einen der vielen Artikel, die vor ihm auf dem Tisch verstreut lagen. "Scheint allerdings eine eher obskure Therapie zu sein."
"OK, zeig mal her. Aber dann ist Schluss für heute."