Kapitel 11: Krise
"Wie geht es Severus?", fragte Remus Lupin, als er das private Krankenzimmer betrat.
"Soweit ist er stabil, obwohl das wohl nicht viel heissen will, so lange das Einhornblut noch wirksam ist", kam Madame Pomfreys Antwort. "Ich verabreiche ihm gerade etwas Blut und Flüssigkeit, auf die Muggel-Methode. Hoffentlich wird es ausreichen ihn am Leben zu erhalten, wenn der Effekt des Einhornblutes abklingt."
"Der Geruch ist noch immer da, aber nicht mehr ganz so stark wie am Anfang", sagte der Werwolf, während er schnuppernd die Gerüche analysierte. "Es kann nicht mehr lange dauern."
"Dann wird es sich bald herausstellen, ob ich etwas erreichen konnte oder nicht." Die Medihexe seufzte. "Wäre es Ihnen möglich, Mr. Lupin, mir kurz zu helfen? Severus' Arm ist stark brandig. Ich muss noch einmal schneiden, sonst stirbt er an Blutvergiftung. Wenn Sie ihn ruhig halten könnten, während ich operiere?" Remus nickte, obwohl ihm bei der Vorstellung leicht schwummerig wurde. Er machte sich nicht viel aus dem Anblick von Blut, jedenfalls nicht, wenn er seine menschliche Form hatte. Und das hier würde sicher sehr schmerzhaft werden.
"Wo ist der Direktor?", fragte er. "Wäre es nicht besser, wenn er ein paar schmerzlindernde Zaubersprüche sprechen würde?"
"Die Sprüche helfen leider nicht mehr viel. Unglücklicherweise gewöhnt sich der Körper ziemlich schnell daran. Viel schneller als an Heiltränke." Wieder seufzte die Medihexe. "Albus hat sich hingelegt und holt etwas Schlaf nach, Minerva ebenfalls. Letzte Nacht war doch sehr anstrengend." Mit einem geübten Blick sah sie den jungen Ex-Professor prüfend an. "Sie sehen auch nicht gerade besonders ausgeruht aus."
"Ehrlich gesagt bin ich in der Bücherei eingeschlafen, mitten auf Havelock Sweetings ‚Enzyklopädie des Einhorns'. Ich würde es nicht gerade als Ruhekissen weiter empfehlen." Der Werwolf massierte leicht seinen verspannten Nacken.
"Haben Sie schon etwas Brauchbares gefunden?"
"Nein, nicht wirklich. Nur, dass wer auch immer ein Einhorn tötet und sein Blut trinkt, um sein Leben zu verlängern, verflucht sein wird. Ich habe weder etwas über die Natur des Fluches, noch etwas darüber gefunden, was passiert, wenn man dazu gezwungen wird das Blut zu trinken. Leider gibt es sehr wenig bekannte Fakten. Das meiste ist nichts weiter als Spekulation und hilft uns nicht weiter. Vielleicht hat Miss Granger mehr Erfolg. Sie hat momentan die Nachforschungen in der Bibliothek übernommen. Meinte, sie könnte sich ohnehin nicht auf Geschichte der Zauberei konzentrieren, nach dem, was letzte Nacht geschehen ist."
"Das ist nur zu verständlich", stimmte die Medihexe nickend zu, während sie fest eine magische Klemme um Severus' Oberarm schloss, um weitere Blutungen zu verhindern. Die Todesser hatten mitten durch den Ellenbogen geschnitten, oder wohl eher gehackt, und sie musste dies nun gut einige Zentimeter oberhalb tun. Wirklich Pech, dass das Gelenk nicht gerettet werden konnte. Es wäre so viel einfacher gewesen, eine gut funktionierende Prothese anzupassen. Für einen Mann wie Severus, der es gewöhnt war, ständig mit beiden Händen zu arbeiten, musste es ein schwerer Schock sein, plötzlich einen Arm zu verlieren. Knochen konnte sie problemlos nachwachsen lassen, aber kein Heiler konnte ganze Gliedmaßen wiederherstellen. Nicht ohne Schwarze Magie jedenfalls. Es würde schwer für ihn werden, mit dem Verlust klarzukommen, wenn er erwachte. Falls er erwachte. Aber es gab keine Alternative. "Sind Sie bereit, Remus? Dann lassen Sie uns anfangen. Adurgeo Consanesco!"
Der helle, blaue Lichtstrahl, der aus Pomfreys Zauberstab hervor schoss, fraß sich langsam durch Gewebe und Knochen und verschloss gleichzeitig die Wunde. Severus gab ein paar wimmernde Laute von sich, bewegte sich aber nicht. Sein Körper war zu entkräftet, um gegen den festen Griff des Werwolfs anzukämpfen.
"Vielen Dank für Ihre Hilfe, Mr. Lupin", sagte die Medihexe zu dem leicht grünlich aussehenden Zauberer, während sie den Armstumpf sorgfältig verband. "Ich denke, ich komme jetzt alleine klar. Severus' Knie sind in einem schrecklichen Zustand und müssen als nächste behandelt werden, aber glücklicherweise sind sie nicht brandig. Mit viel Zeit und geduldiger Behandlung sollte er wieder problemlos laufen können."
"Sind sie sicher, dass Sie mich nicht mehr brauchen?" Remus konnte kaum einen Seufzer der Erleichterung unterdrücken, als Pomfrey nickte. "Dann gehe ich mit Firenze sprechen. Und danach zurück in die Bibliothek. Ich werde sie auf dem Laufenden halten, wenn ich etwas wichtiges entdecken sollte."
***
"Was ist nur heute mit dir los, Hermine?", fragte Harry, als seine Freundin sich zum Mittagessen zu ihm an den Gryffindor Tisch setzte. "Erst kommst du zu spät zum Frühstück, sagst nicht mal ‚hallo', und dann schwänzt du den ganzen Vormittag über den Unterricht. Du bist doch nicht krank, oder?" Als das Mädchen nicht gleich antwortete, fuhr Harry fort: "Und Ron, Neville und Malfoy sind von McGonagall aus dem Unterricht gerufen worden und immer noch nicht zurück. Und was macht Lupin überhaupt hier?"
"Lupin stellt wichtige Nachforschungen an. Ich habe ihm den ganzen Morgen lang in der Bibliothek geholfen. Oh Harry, es ist so schrecklich!", rief Hermine plötzlich aus. Sie schluckte schwer, um nicht wieder losheulen zu müssen, und erzählte schließlich ihrem Freund, was in der Nacht geschehen war. Harry saß noch immer mit vor Erstaunen offenem Mund da, als Ron, Neville und Ginny die Große Halle betraten und zu ihnen herüber kamen. Die drei sahen ziemlich blass aus.
"Harry, du wirst nicht glauben, was passiert ist", sagte Ron zu seinem besten Freund, wobei er völlig den erstaunten Ausdruck in dessen Gesicht übersah. "McGonagall hat und gezwungen, für Snape Blut zu spenden! Ausgerechnet für Snape! Wir mussten literweise Blutvermehrungs-Trank trinken. Es war echt eklig, das sag ich dir. Neville ist natürlich umgekippt. Pomfrey hat uns gerade erst gehen lassen, aber nicht bevor sie uns noch mal eine Portion Blut abgezapft hat." Er besah sich seinen Freund näher. "Du hast gehört, was passiert ist, Kumpel?" Harry nickte still. Er konnte es noch kaum glauben. Snape gefoltert und fast getötet von Todessern? Dann hatte der fettige Idiot doch nicht die Seiten gewechselt. Er war wirklich Dumbledore und dem Phönixorden treu gewesen. Aber da war immer noch die Sache mit Sirius. Snape hatte ihn wieder und wieder damit aufgezogen, dass er nichts Nützliches für den Orden tun konnte, so lange, bis sein Patenonkel schließlich genug von den höhnischen Bemerkungen des Slytherin gehabt hatte und den anderen Ordensmitgliedern in das Zaubereiministerium gefolgt war. In seinen Tod. Es tat immer noch schrecklich weh, daran zu denken. Es würde nie aufhören weh zu tun. Aber Sirius hätte sich der Rettungsmannschaft auch angeschlossen, wenn Snapes Sticheleien nicht gewesen wären, das hatte er inzwischen eingesehen. Er hatte es im Grunde schon immer gewusst, aber es war so einfach und praktisch gewesen, alle Schuld auf den bösen Tränkemeister zu schieben. Vielleicht hatte Snape sogar Recht. Gryffindors neigten wirklich dazu, impulsiv und ohne groß über mögliche Konsequenzen nachzudenken, zu handeln, Regeln und Befehle zu ignorieren, ihrem eigenen Mut und Glück mehr zu vertrauen als dem Rat anderer, und nur zum Spaß Risiken einzugehen, bei denen sie ihr eigenes und das Leben anderer aufs Spiel setzten. James und Sirius waren so gewesen, und beide waren tot. Oft war auch er so, aber er wollte nicht sterben. Er durfte nicht sterben, jedenfalls nicht bevor er seine Aufgabe erfüllt und die Welt für immer von Voldemort befreit hatte. Vielleicht sollte er in Zukunft mehr auf andere hören. Wenn Snape nicht von Anfang an darauf bestanden hätte, den fiesen Bastard spielen zu müssen, hätte er möglicherweise sogar gelegentlich auf ihn gehört ...
"Malfoy ist immer noch oben und versucht Madame Pomfrey dazu zu überreden, dass sie ihn kurz zum Professor lässt. Allerdings glaube ich nicht, dass sie es erlauben wird", unterbrach Ginny seine Gedanken, während sie sich ihren Teller füllte. "Es sieht ziemlich schlecht für ihn aus."
"Sie haben seinen Arm abgehackt, den mit dem Dunklen Mal. Er war kaum noch am Leben, als wir ihn gefunden haben, Professor McGonagall und ich", sagte Hermine, die allein schon bei der Erinnerung erschauderte. "Es war fürchterlich."
"Sie haben Snapes Arm abgetrennt? Heh, dann kann er vielleicht nie mehr unterrichten!", rief Ron aus und seine Stimmung hellte sich deutlich auf.
"Ronald Weasley, das ist nicht nett", schalt Hermine. "Snape hat dich immerhin in seinen Kurs für Fortgeschrittene aufgenommen, damit du Auror werden kannst, trotz deiner unzureichenden Abschlussnoten. Und Harry und Neville auch."
"Ich wette, Dumbledore hat ihm gedroht, ihn rauszuschmeissen, wenn er es nicht tut ...", murmelte Ron leicht beschämt. Irgendwie schaffte er es immer Hermine zu verärgern. Vielleicht weil sie besonders hübsch aussah, wenn sie sich aufregte?
"Ich glaube nicht, dass Snape aufhören wird zu unterrichten", überlegte Ginny. "Allerdings muss er vielleicht seine Eröffnungsrede etwas abändern und in Zukunft einiges an Zauberstabgefuchtel in seinem Unterricht anwenden, zum Beispiel einen Klebe-Zauber, damit die Zutaten nicht weg rutschen, wenn er sie mit einer Hand schneidet. Hoffentlich wird er jetzt deswegen nicht noch verbitterter und fieser." Sie drehte sich zu Neville um, der bisher nicht ein Wort gesagt hatte. "Warum isst du nichts, Neville, dir ist doch nicht immer noch schlecht?"
"Nein, ich habe nur gerade an meine Eltern gedacht", sagte er still. "Snape kann wirklich von Glück sagen, wenn er nicht bei ihnen in St. Mungos landet."
***
"Mr. Malfoy, habe ich Ihnen nicht gesagt, dass Professor Snape noch zu krank ist, um Besucher zu empfangen? Er ist ohnehin noch immer bewusstlos und wird gar nicht bemerken, dass Sie da sind." Voll Entrüstung sah die Medihexe den blonden Slytherin an. "Sollten Sie nicht im Unterricht sein, anstatt hier in den Fluren herumzuschleichen?"
"Bitte, Madame Pomfrey, nur eine Minute. Ich ... ich muss den Professor sehen!"
"Genauso stur wie Severus, was? Aber nur eine Minute. Und nur, um Sie endlich los zu werden." Sie seufzte entnervt. "Folgen Sie mir, Mr. Malfoy."
Natürlich wusste er, dass sein Hauslehrer schwer verletzt war, aber den furchteinflößenden Tränkemeister so bleich und verletzlich zu sehen, war fast zu viel für den Jungen. Er musste die Tränen unterdrücken, als er sich leise dem Bett näherte.
"Es tut mir so leid, Professor", flüsterte er heiser. "Aber sie werden dafür bezahlen, was sie Ihnen angetan haben. Das schwöre ich."
Gerade als der blonde Slytherin das Zimmer wieder verlassen wollte, rührte sich Snape. Er gab ein ersticktes Stöhnen von sich und erschauerte. Dann fing sein ganzer Körper an wild zu zucken und sich zusammenzukrampfen, so als ob er plötzlich schreckliche Schmerzen hätte, während sein Atem in keuchenden Stößen kam. Dracos Augen weiteten sich vor Schreck.
"Mr. Malfoy, schnell, halten Sie den Professor fest, sonst verletzt er sich noch mehr!", rief Madame Pomfrey, die fast ebenso entsetzt aussah wie der Schüler. "Ich gehe den Direktor rufen. Und Lupin."
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