Kapitel 10
"Wach auf, mon corbeau!"
Severus öffnete leise knurrend die Augen und blickte in ein lächelndes Gesicht.
"Du hast gut geschlafen", sagte Lys, "zum allerersten Mal! Du hast nicht im Traum gewimmert, nicht gestöhnt und dich nicht halbwach herumgewälzt. Nur geschlafen."
Er gähnte herzhaft und rieb sich die Augen. "Ich habe nicht einmal geträumt", stellte er fest.
"Frühstück!" rief Lys und hielt ihm ein großes Stück Brot und einen Krug mit Wasser hin. Er trank einen großen Schluck, stellte den Krug ab und begann, an dem Brot zu knabbern. Ausgeschlafen und gestärkt, Frühstück am Bett mit einer bezaubernden Frau - wie wundervoll. Wenn man nicht gerade in Askaban saß und nicht einmal wusste, ob überhaupt Frühstückszeit war. Oder ob draußen die Sonne schien. Oder wie viele Tage man noch zu leben hatte (richtig zu leben).
"Wie viele Tage sind es noch?" fragte Snape.
"Ich weiß es nicht", antwortete Lys, "ich habe schon vor langer, langer Zeit aufgehört, Tage zu zählen. Hier drinnen vergisst man das."
"Sicher", meinte Snape bitter, "wenn man mehr Zeit hier drinnen vor sich hat, als einem lieb ist. Aber nicht, wenn einen nur noch wenige Tage vom grauenvollsten Ende trennen. Ich habe aber auch vergessen zu zählen. Es können nicht mehr viele sein."
"Dann sollten wir diesen Tag nutzen", schlug Lys geradezu fröhlich vor, "wie wäre es mit einem Ausflug?"
Snape zog beide Augenbrauen weit hoch und schnaubte: "Da soll noch mal einer behaupten, mein Humor sei zu schwarz!"
Lys überging seine Bemerkung unbekümmert. Sie zog etwas aus den Falten ihres Kleides und ließ es vor seinen Augen pendeln. Es war ein großer, rostiger Schlüssel. "Sei ein Kavalier!" schmeichelte sie, "geh voraus und halt einer Dame die Tür auf!"
Snape starrte fassungslos erst auf den Schlüssel, dann auf die Tür, dann wieder auf den Schlüssel, dann auf Lys. "Wo hast du den her?"
"Der Wärter stand ziemlich nah an meinem Versteck, oder?" fragte sie mit einem unschuldigen Lächeln.
Severus erinnerte sich: Brooks hatte tatsächlich nahe der dunklen Ecke gewartet, während Bait sich mit Snape "unterhalten" hatte. Er sah Lys mit einer Mischung aus Unglauben und Respekt an: "Geklaut?"
Sie grinste ihn stolz an, und ein Fünkchen Verschlagenheit blitzte in ihren kindlichen Augen auf. Snape sprang von seiner Pritsche hoch und eilte zur Tür. Er musste wissen, ob das wirklich der Schlüssel zu seiner Zellentür war! Sein Herz klopfte laut, aus Hoffnung und Furcht vor Enttäuschung. Der Schlüssel knirschte in dem alten Schloss, leistete etwas Widerstand - und die Tür sprang auf!
Erst einmal nur raus hier! Egal wohin! Raus! Snape rannte den Gang entlang, ziellos, einfach nur, weil er rennen konnte. Sein Umhang flatterte hinter ihm her, fast wie in alten Zeiten in Hogwarts. Lys sah ihm nach und lachte. Dann beeilte sie sich, ihn einzuholen. "Halt!" rief sie leise, "du bist unvorsichtig! Es könnten Wächter kommen."
Natürlich hatte sie Recht. Snape räusperte sich verlegen und kam wieder zur Vernunft. "Sag du, wo wir lang gehen sollen, Lys. Du kennst dich hier aus."
"Immer mir nach. Wir finden ein Versteck für dich, und Essensvorräte. Alles, was wir brauchen."
Einen Moment zögerte er: "Was bringt das eigentlich? Ich kann nicht von der Insel weg, und wenn ich mich immer in einem dunklen Loch verstecken muss, könnte ich genauso gut in meiner Zelle sitzen."
Doch Lys gab zu bedenken: "Ist es nicht doch besser, ein bisschen herumlaufen zu können? Nicht immer in dem einen Verlies eingesperrt zu sein, angekettet vielleicht? Nicht mehr geschlagen zu werden? Nicht in wenigen Tagen..."
"Schon gut, schon gut. Überzeugt."
Lys schlich voran, an jeder Biegung sichernd, Snape folgte ihr. Seine Füße froren auf dem kalten Steinboden, bis er sie kaum noch spürte. "Du weißt nicht zufällig, wo sie hier eine Kleiderklammer haben? Schuhe oder Strümpfe wären nicht schlecht", flüsterte Snape.
"Nein, weiß ich nicht. Und wir sind leiser ohne Schuhe." Er schaute hinunter auf ihre kleinen, nackten Füße und beschloss, dass er das auch aushalten konnte, wenn sie es tat.
Sie liefen an unzähligen Zellentüren vorbei, und er sah absichtlich nicht durch die winzigen Sichtfenster. Er wollte gar nicht wissen, wie viele Menschen hier noch lebendig begraben waren. Die Festung von Askaban war wie ein Irrgarten: Gänge, Ecken, Treppen, Gänge... Alles düster, bedrohlich, modrig und kalt.
Lys huschte mit erstaunlicher Sicherheit voraus, schien jeden Winkel zu kennen. Snape schlich ihr nach, versuchte vergeblich, sich die Wege einzuprägen. Wieder eine Treppe hoch. Snape hielt kurz inne, starrte etwas an wie ein nie gesehenes Wunder - ein Fenster! Ein Fenster nach draußen! Eher eine kleine Luke, ohne Scheibe. Ein wenig Tageslicht! Und frische Luft! Er eilte hin und stellte sich auf die Zehenspitzen, um hinaus zu sehen.
Es ging gerade so; das Fenster war klein und hoch oben. Aber er sah ein Stück Meer. Und Himmel, nicht sonnig, sondern grau und wolkenverhangen, aber er erschien ihm schöner als jeder blanke Sommerhimmel, den er in seinem Leben gesehen hatte. Hätte die Sonne geschienen, hätte er auch gar nicht hinsehen können, seine Augen waren nicht mehr an so viel Licht gewöhnt und taten so schon weh.
Das uferlose Wasser - es sah so trügerisch nach Freiheit aus. Und doch war es die Barriere, die Askaban von der Außenwelt abschnitt und jede Flucht unmöglich machte. Severus streckte seine Nase dem Fenster entgegen und atmete in tiefen Zügen die klare Luft ein. Es war wie eine Erlösung. Irgendwann konnte er nicht länger auf seinen halb erfrorenen Zehen stehen und ließ sich zurücksinken. Er reckte seine Arme hoch und hielt seine Hände aus dem Fensterchen. Draußen wehte ein schneidend kalter Wind, aber es tat so gut, ihn zu spüren.
Lys hatte ihm eine Weile zugesehen und sich über sein kleines Glück gefreut, doch nun musste sie es beenden. "Wir müssen weiter", drängte sie, "hier ist es zu hell und zu ungeschützt." Seufzend gab er ihr recht, und sie setzten gemeinsam ihre Wanderung fort.
Lys brachte Severus in ein Versteck unter einer Treppe. Sie schien den dunklen Winkel öfter zu nutzen, denn sie hatte einiges hier gelagert, was sie andernorts in Askaban zusammengetragen hatte: Decken, Essensvorräte, allen möglichen nützlichen oder unnützen Kram, den sie hatte ergattern können. Gemeinsam bauten sie sich ein Nest aus den Decken und ruhten sich aus. Snape spürte zum ersten Mal seit langer Zeit wieder etwas Wärme, vor allem an seinen halb erstarrten Füßen.
Lys blieb nicht lange ruhig sitzen. Sie wuselte eifrig in ihrer Höhle herum und präsentierte Snape stolz ihre erbeuteten Schätze. Ein paar Äpfel waren dabei, etwas welk, aber trotzdem, was für eine Delikatesse nach Wasser und Brot! Snape ließ sich gleich drei davon schmecken. Lys nahm selber nichts und sah ihm freudestrahlend zu, wie er es genoss.
Eine Uhr hatte sie noch, aber die war schon lange stehen geblieben. Und eine Schüssel mit einem Sprung. Und ein Auroren-Abzeichen. Wahnsinn, so etwas zu klauen! Es war aber ein ganz veraltetes, das sah Snape auf den ersten Blick. Also nichts mit seinem ersten Gedanken, sich als Auror zu verkleiden. Wie auch, ohne Uniform, sogar ohne Schuhe?
Lys betrachtete liebevoll die Schätze, die sie vor Snape ausgebreitet hatte. Dann wühlte sie noch etwas hervor. Es sah aus wie ein Schwert. Ein schwarzes Schwert, nicht allzu groß. Wo hatte sie das nun wieder her? "Zeig mal!" bat er, "eine Waffe könnten wir vielleicht gebrauchen." Doch als sie es in seine Hand legte, wusste er nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Es musste ein Kinderspielzeug sein! Völlig stumpf und unbrauchbar.
"Steck es ein!" verlangte sie nachdrücklich.
Er fuhr mit seinen Fingerspitzen über die Schneide: "Schau mal, das taugt nichts, Lys."
"Aber doch!" beharrte sie aufgebracht, "es ist ein magischer Gegenstand! Es kann glühen und Flammen schlagen!"
Snape begutachtete es nun eingehender. Konnte es ein versteckter Zauberstab sein, so wie Hagrids Regenschirm? (Hagrid, der immer glaubte, niemand wüsste davon! Aber Snape entging so leicht nichts. Er verriet aber auch so leicht nichts.) Doch Severus spürte nicht die geringste Spur magischer Kraft, als er das Schwert in seinen Händen wog. Es war ein Spielzeug, hübsch und glänzend, sonst nichts.
Aber Lys sah das anders, und sie hatte wieder diesen Ausdruck des Wahnsinns in ihren Augen, dem man besser nicht widersprach. "Es ist magisch!" wiederholte sie aufgeregt. "Das wirst du merken, wenn du in der richtigen Verfassung dafür bist! Sieh her: Es ist deins!" Sie deutete aufgeregt auf eine Gravur am Schaft des Schwertes. Sie zeigte ein Wappen mit einem Raben. "Deins, mein corbeau! Es hat auf dich gewartet! Nur du kannst es führen!"
Er lächelte traurig. Was hatte Askaban ihrem armen Geist nur angetan? Eben war sie noch seine wache, aufmerksame Führerin durch diesen Irrgarten gewesen. Sie hatte ihn versorgt und aufgebaut, ihn aus der Zelle befreit, all diese Dinge organisiert. Aber jetzt trat ihre wahre Geistesverfassung wieder deutlich hervor. Sie war liebenswert, rührend, in ihrer kindlichen Begeisterung für die sinnlosesten Dinge, aber sie war auch bedauernswert. Er fühlte ein Bedürfnis, sie zu beschützen. Er wollte sie fortbringen von diesem schrecklichen Ort, mitnehmen. Ja, wenn er hier herauskam, würde er sie mitnehmen. Er würde sie nicht zurücklassen, nicht hier, nicht in St. Mungo´s. Sie konnte doch bei ihm im Kerker leben. Sie würde dort niemanden stören, und niemand würde ihre Ruhe stören. Er würde sie vor der Außenwelt abschirmen, wie er sich selbst dort unten immer abgeschirmt hatte. Und ihm machte es nichts aus, dass sie wahnsinnig war. 'Wir Abartigen müssen zusammenhalten', dachte er. Im nächsten Moment erschrak er darüber, wie "abartig", wie wahnsinnig er hier drinnen selbst offensichtlich schon geworden war! Was für Gedanken er sich machte! Es gab kein Wegkommen von diesem Ort! Keine Zukunft.
Nein, keine Zukunft. Nur das Jetzt und Hier. Wenn er ihr eine Freude machen wollte, dann jetzt und hier. Deshalb nahm er das schwarze Spielzeugschwert und schwang es mit einer Hand schneidig durch die Luft. Er zwinkerte Lys zu: "Du hast recht, es ist eine prächtige Waffe. Danke! Ich werde es immer bei mir tragen, dann kann uns nichts passieren."
Sie nickte ernsthaft und eifrig: "Es wird aufflammen, wenn du es brauchst. Es ist jetzt in der richtigen Hand, es hat so lange gewartet. Aber du kannst es nur führen, wenn du weißt, dass du es wert bist. Weißt du es?"
Snape lächelte verlegen. "Wenn du denkst, dass ich es wert bin..."
"Nein!" protestierte Lys und sah ihn böse an. "Wenn du denkst, dass du es wert bist!"
Er nickte langsam und steckte das Schwert in seinen Umhang. Lys lächelte nun wieder und reichte ihm einen weiteren Apfel, den er dankbar entgegennahm und aß. Bald danach schlief er ein.
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