Kapitel 4
Nebel. Eingebettet in einen dichten Nebel, so weit weg von den Geräuschen und Anblicken der Welt und von allem Fühlen und Denken. Nebel...
Grünliches Licht hinter dem Nebel... "Priori Incantatem!"... Nein!!! NEIIIIIIIIIIIIIIIIN!!!
Mit einem lauten Schrei fuhr Snape so plötzlich senkrecht hoch, dass sein schwacher Kreislauf wieder kollabierte und er auf das Bett zurückfiel. Doch seine Augen blieben geöffnet. Weit aufgerissen. Trotzdem nahmen sie die Welt noch immer wie durch einen Nebel wahr, der sich nur sehr langsam lichtete. Das nächste, was aus dem Nebel auftauchte, war Schmerz. Ein scharfer, brennender Scherz, der seine Eingeweide ausglühte, wie es schien. Er wollte sich zusammenkrümmen, um den Schmerz zu lindern, doch er war zu kraftlos dazu. Entsetzen malte sich in seinem totenblassen, von kaltem Schweiß glänzenden Gesicht. Der Schrei hatte seine ganze restliche Kraft verbraucht. Er brachte nur noch ein schwaches Stöhnen zustande.
Plötzlich eine Berührung. Der Körper, eben noch nicht zu der geringsten Bewegung fähig, zuckte heftig zusammen. Die wenigen Berührungen, die Snape kannte, bedeuteten Schmerz. Doch diese war anders. So anders, als alles, was er kannte. Langsam entspannten sich seine verkrampften, zitternden Muskeln wieder und wenn man einer Berührung "lauschen" könnte, so tat er es jetzt. Abwartend und völlig überrumpelt von etwas, das nicht zuzuordnen war, so fremd und doch so... tröstlich? Nie gekannt... Doch, tief, ganz tief vergraben in ihm, verschüttet von einem Berg grausamer Erinnerungen, war ein solches Gefühl gespeichert. Damals, scheinbar vor Jahrtausenden, als er noch Sevvie hieß und eine Mutter hatte. Als er krank war und ihre Hand auf seinem glühenden Köpfchen spürte.
Dumbledore ließ seine Hand auf der Stirn des Kranken ruhen und bewegte sie nur kurz und sanft, um eine Strähne nassen, schwarzen Haares beiseite zu schieben. Er hatte die Hand seit vielen Stunden nicht fortgenommen, egal ob sie fast taub wurde. Nur als Snape hochschreckte, war die Berührung für einen Moment unterbrochen gewesen. Diese Hand hatte die glühende Hitze gespürt und den kalten Schweiß, und das Zittern, das den ganzen mageren Körper schüttelte.
Nach weiteren Unendlichkeiten tauchte Severus Snape schließlich aus dem Nebel auf. Er öffnete seine Augen, und das erste, was sie erblickten, war ein anderes Paar Augen, hell und freundlich und voller Sorge und Kummer, hinter den halbmondförmigen Gläsern einer Brille. Snape konnte seinen Blick nicht abwenden von diesem liebevollen Ausdruck, der tatsächlich und unfassbarer Weise ihm zu gelten schien. Und Dumbledore seinerseits schaute ganz tief in diese schwarzen Augen und las soviel Trauer darin, dass ihm die Tränen kamen. Er hatte viele traurige Augen gesehen, in seiner Laufbahn als Lehrer, Kinderaugen zumeist, aber nie etwas Derartiges. Aus diesen Augen war jeder Glanz verschwunden, sie waren wie unergründlich tiefe, schwarze Brunnen, auf deren Grund, könnte irgendjemand durch die Abgründe der Dunkelheit sehen, man riesige Ansammlungen von Schmerz finden würde.
"Severus...!", brachte Dumbledore mit erstickter, heiserer Stimme hervor.
"Professor... Dumbledore?", kam ein schwaches, ungläubiges Flüstern zurück.
"Ja", sagte der Ältere sanft, "aber nenne mich Albus. Ich bin nicht mehr dein Lehrer."
"Was... ist... ?" Das Sprechen strengte Snape sichtbar an.
"Schscht!", machte Dumbledore und drückte seinen Kopf behutsam zurück auf das Kissen, "du musst nicht sprechen. Ich rede jetzt. Ich sage dir alles." Er sammelte kurz seine Gedanken, dann erzählte er: "Du bist zu uns zurückgekehrt, mein Junge. Ich habe dich im Keller gefunden. Du hattest dich vergiftet."
Ja, jetzt wusste Snape wieder alles ganz genau. Außer, wieso Dumbledore ausgerechnet heute einen Spaziergang in ein geheimes und jahrelang unbenutztes Kellerverlies unternommen hatte. Schon in Severus´ Schulzeit hatte dieser Mann immer das Gefühl vermittelt, als wisse er irgendwie alles.
Dumbledore sprach weiter: "Madam Pomfrey, die jetzige Krankenschwester, und ich haben viele entsetzlich lange Stunden um dein Leben gebangt. Wir haben die Essenzen entschlüsselt, aus denen der Trank bestand, und ein genaues Gegengift hergestellt. Was nicht einfach war. Hätte unser ehemals bester Schüler im Fach 'Zaubertränke' mir dabei zur Hand gehen können, wäre es wesentlich leichter gewesen." Bei den letzten Worten blitzten seine ernsten Augen für einen Moment schelmisch auf. Doch gleich danach sprach wieder tiefe Trauer aus seinem Gesicht. "Severus, mein Junge", fragte er, während seine Hand immer wieder über die schwarzen Haare strich, "warum hast du dir das angetan?"
Mit der Gegenfrage hatte er nicht gerechnet. Snapes schwache Stimme ächzte: "Warum haben Sie... hast du... mich gerettet?" Es klang wie eine Anklage.
Dumbledore erschrak, doch er bemühte sich, mit ganz ruhiger Stimme zu antworten. "Weil du es wert bist, gerettet zu werden, Severus."
"Nein, das bin ich nicht", erwiderte Snape leise, und plötzlich liefen ihm Tränen über die ausgehöhlten Wangen. Angestaute Tränen, die er seit Jahren nicht mehr geweint hatte. Er streckte Dumbledore seinen Arm entgegen: "Ich bin ein Todesser!"
Zu seiner Überraschung nickte Dumbledore völlig unbeeindruckt: "Ich habe das Mal auf deinem Arm schon längst gesehen. Glaubst du, ein Zeichen auf der Haut kann mir den Blick auf einen ganzen Menschen versperren? Du bist ein verzweifelter junger Mensch, du bist mein Schüler, dem großes Unrecht angetan wurde, du bist mein Gast, der zu mir zurückgekehrt ist, du bist ein Kranker, der Hilfe braucht, und an irgendeiner Ecke deines Wesens bist du auch noch ein Todesser."
Snape drehte sein Gesicht zur Seite, um Dumbledores Augen auszuweichen, und drückte es in das Kissen. "Aber du hast nicht alles gesehen", schluchzte er, "denn ich bin auch ein Mörder!"
Dumbledore versuchte sich nicht anmerken zu lassen, dass er nun doch erschrak. Er legte seine Hand wieder beruhigend auf Snapes Kopf und ließ die Worte ebenso aus ihm herausfließen, wie die Tränen. Es dauerte lange, denn Snape sprach stockend und widerwillig, und die Anstrengung zwang ihn zu häufigen Pausen. Doch wenn Albus Dumbledore etwas hatte und zu geben verstand wie kein anderer, dann waren es Zeit und Geduld. Schließlich hatte er in seinem Kopf die wirren Fetzen der Erzählung zu einem sinnvollen Ganzen zusammengefügt. Sein Gesicht wirkte so zufrieden, als sei eine Erwartung, die er gesetzt hatte, nicht enttäuscht worden. "Du standest unter dem Imperiusfluch", beruhigte er Snape, der sein Gesicht immer noch im Kissen vergrub und vom Schluchzen geschüttelt wurde, "du bist kein Mörder."
"Doch!", kam ein Aufschrei aus dem Kissen, "der Mann ist tot! Ihm ist es egal, warum ich das getan habe! Er ist tot!"
"Aber es ist nicht deine Schuld", entgegnete Dumbledore geduldig, "es ist allein die Schuld der Menschen, die dich missbraucht haben. Voldemort hat ihn getötet, nicht du."
Snapes Gesicht drehte sich mit einem Ruck aus dem Kissen zu ihm herum: "Nein, gib dir keine Mühe, es ist meine Schuld! Man kann sich gegen den Imperius-Fluch wehren. Aber ich habe es nicht getan."
Dumbledore schüttelte den Kopf: "Dazu gehört eine immense Kraft der Magie und des eigenen Willens. Nur ganz wenige können das, vor allem wenn der Meister sehr stark ist. Du hattest keine Chance."
Snapes verzweifelter Gesichtsausdruck entblößte seine zusammengebissenen Zähne. Er schüttelte unwillig den Kopf und stieß hervor: "Mich hat er angesehen, nicht Voldemort! Vor seinem Tod und danach. Seine Augen haben mich angefleht, mich angestarrt wie ein Monster, mich verflucht für immer und ewig!"
Dumbledore seufzte: "Ach, Severus. Mein Junge. Quäl dich doch nicht so! Bitte!"
Snape sagte nichts mehr zu diesem Thema, doch Dumbledore wusste, dass er ihn nicht überzeugt hatte. Er kannte die trotzige Sturheit seines Schülers noch gut genug.
Snape wechselte das Thema zu handfesteren Problemen: "Also, du hast mich ins Leben zurückgerufen, es ist nun einmal passiert. Und wo soll ich jetzt hin? Es gibt keinen Platz für mich auf der Erde."
Dumbledore sah in Snapes Gesicht, das ganz offen war, wie das eines fragenden Kindes, und wusste, dass dies keine zynische Fangfrage war, sondern sein voller Ernst. Im nächsten Moment aber schlug dieser schon um in bitteren Sarkasmus: "Ah, doch, es gibt einen Platz für Mörder wie mich. Ich habe Professor Blimp endlich den Grund geliefert, mich nach Askaban zu bringen."
Dumbledore runzelte unwillig die Stirn: "Professor Blimp ist nicht mehr an der Schule. Und du bist kein Mörder. Für Taten, die unter dem Imperius-Fluch begangen wurden, kommt man nicht nach Askaban."
Snape lachte kurz und bitter auf: "Bist du dir sicher, dass sie es so genau nehmen? Bei mir?"
Dumbledore dachte kurz nach und musste sich eingestehen, dass er sich nicht so sicher war, wie er gern wollte. "Es wird zu keiner Gerichtsverhandlung kommen", sagte er dann mit fester Stimme, "niemand außer dir und mir soll je erfahren, was passiert ist."
Snape verzog die Mundwinkel zu einem winzigen, spöttischen Grinsen: "Also nicht einmal Platz in Askaban für mich. Und wo dann?" Er hatte erwartet, seinen alten Lehrer in Verlegenheit und langes Grübeln zu stürzen, doch dieser antwortete ohne eine Sekunde des Zögerns: "Hier."
Snape starrte ihn einen Moment lang ungläubig an, dann schüttelte er so energisch, wie sein geschwächter Zustand es erlaubte, den Kopf. "Nein, nein, nein! Nicht ausgerechnet hier. Ich habe nie hierher gehört. Und jetzt bin ich nicht einmal mehr ein Schüler, Albus, was soll ich..."
"Uns fehlt ein guter Lehrer für Zaubertränke", unterbrach ihn Dumbledore, "Severus, es gibt keine Blimp mehr, und keine Folterkammer! Diese Schule ist ein anderer Ort geworden! Und ich bin ihr Direktor."
"Du?!"
"Ja."
"Aber..."
Dumbledore ergriff beide Hände des jungen Mannes und sah ihm in die Augen: "Severus! Ich weiß, wie viel dir hier an diesem Ort angetan wurde, und damals musste ich es mit ansehen und konnte es nicht verhindern. Ich möchte es hier, an diesem Ort, an dir wieder gutmachen, so weit es eben geht. Gib mir eine Chance, Severus! Bitte!"
Snapes Blick wirkte hilflos. Hätte Dumbledore gesagt, er wolle ihm, Snape, eine Chance geben, dann hätte er seine Hand ausgeschlagen. Aber nun sollte er, Snape, das verdorbene Kind, das abschreckende Beispiel, der Todesser, Albus Dumbledore eine Chance geben?! Wer war er denn, um "nein" zu sagen? In Dumbledores Augen blitzte so etwas wie Triumph auf, als er in Snapes bestürztes Gesicht blickte.
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