Am anderen Morgen begann auf Hogwarts der Alltag.
Noch etwas verschlafen machten sich Gryffindors Siebtklässler auf den Weg zu Kräuterkunde, wo es Professor Sprout gnädigerweise langsam angehen ließ.
"Wir wollen euer letztes Jahr damit beginnen, absolut reines Diantuskraut zu züchten", verkündete sie. "Kann sich zufällig noch jemand daran erinnern, wozu man es braucht?"
Hermines Hand schnellte augenblicklich in die Höhe und auch Neville meldete sich.
"Damit einem unter Wasser nicht die Luft ausgeht, wenn man zu dämlich zum Schwimmen ist", ließ sich Emily ungefragt vernehmen.
"Ähhh …", meinte Professor Sprout etwas irritiert. "An sich richtig, aber ich möchte Sie doch bitten, einen etwas anderen Ton anzuschlagen, Miss …"
"McElwood", sagte Emily missmutig. "Und ersparen Sie mir jetzt bitte jeglichen weiteren überflüssigen Kommentar über meine ach so berühmte Familie."
Professor Sprout lief rot an. "Ich hatte nicht die Absicht, denn ich beurteile meine Schüler nach ihren Leistungen, nicht nach ihrer Herkunft. Allerdings hätte ich bei Ihnen tatsächlich eine etwas bessere Kinderstube vermutet. Fünf Punkte Abzug für Gryffindor, damit Sie sich vielleicht in Zukunft wieder daran erinnern!"
Emily zuckte nur gelangweilt mit den Schultern.
"Hab ich's nicht gesagt", flüsterte Parvati Harry zu. "Man muß sich schon sehr anstrengen, von Professor Sprout überhaupt Punkte abgezogen zu bekommen - doch unsere Neue hat dazu nicht einmal fünf Minuten gebraucht."
"Sie ist sicher nicht umsonst aus all den anderen Schulen geflogen", meinte Ron.
"Ich weiß nicht", sagte Hermine. "Irgend etwas ist mit ihr, sie hat sich die ganze Nacht herumgewälzt und vor sich hingemurmelt."
"Von mir aus", meinte Parvati. "Aber hoffentlich hält sie jetzt die Klappe!"
Emily sagte für den Rest der Stunde kein einziges Wort mehr und schien mit ihren Gedanken ganz woanders.
Als nächstes stand ‚Verwandlung' auf dem Programm - und Professor McGonagall führte einen anspruchsvollen Unterricht.
"Ich weiß beim besten Willen nicht, wie Sie Ihre Zaubergrade erwerben wollen, wenn Sie nicht einmal in der Lage sind, einen so einfachen Gegenstand wie diese Blumenvase hier in etwas Lebendiges zu verwandeln", wetterte sie gerade.
"Mr. Longbottom, wären Sie also BITTE so freundlich? Ich möchte eine Krähe sehen - und zwar eine rundherum echte, mit Federn, und nicht mit Fischschuppen!"
Neville Longbottom schwenkte mit dem Mut der Verzweiflung seinen Zauberstab. Es gab einen mittleren Knall - und statt der Blumenvase torkelte eine hellgrüne Maus auf zwei Beinen und vier prächtigen, hellrosa Flügeln über Professor McGonagalls Pult. "Immerhin, sie ist lebendig", verteidigte sich Neville gegen das aufkommende Gelächter.
"So ein Kinderkram", nuschelte Emily aus der letzten Bank leise vor sich hin, doch McGonagall hatte scharfe Ohren. "Was meinten Sie gerade, Miss McElwood?"
"Nichts."
"Nun, dann sind Sie sicher über solchen ‚Kinderkram' erhaben und in der Lage, es besser zu machen." Professor McGonagall hatte Nevilles Maus die ursprüngliche Form zurückgegeben. "Dürfte ich also bitten?"
"Wenn's unbedingt sein muß", entgegnete Emily. "Aber auf eigene Gefahr!"
Sie hob ihren Zauberstab, murmelte etwas - und im nächsten Augenblick wurde Professor McGonagalls Gesicht von zwei wunderschönen Krähenflügeln eingerahmt, die direkt über ihren Ohren herauszuwachsen schienen.
Die Lehrerin ignorierte das unterdrückte Gekicher der Klasse. "Und was sollte das werden, Miss McElwood?" Ihre Stimme klang gefährlich ruhig.
Emily zuckte wieder einmal gelangweilt mit den Schultern. "Sie wollten eine Krähe…", begann sie, doch weiter kam sie nicht, denn die Klasse explodierte in einer wahren Lachsalve.
"Zwanzig Punkte Abzug für Gryffindor", brüllte Professor McGonagall. "Eine solche Unverschämtheit ist mir schon seit Jahren nicht mehr untergekommen!"
"Oh nein", stöhnte Ron und wischte sich die Lachtränen aus den Augen. "Das ist das komischste, was ich jemals in McGonagalls Unterricht erlebt habe!"
***
"Sie wollten eine Krähe", kicherte Dean Thomas beim Mittagessen über Emilys letzten Satz. "Und habt ihr McGonagalls Gesicht gesehen? Einfach zum Totlachen!"
"Ein Jammer, dass Fred und George das nicht mitbekommen haben", meinte Ron. "Das wäre so richtig nach ihrem Geschmack gewesen!"
Die Geschichte von der missglückten Krähe nebst Emilys trockenem Kommentar machte schon eifrig die Runde und selbst die Slytherins fanden es komisch.
Die Gryffindors hätten allerdings weit mehr darüber lachen können, wenn der Spaß sie nicht zwanzig Punkte gekostet hätte.
"Wenn das heute Nachmittag auch noch so weitergeht, müssen wir mal ein ernstes Wort mit ihr reden", beschloß Hermine. "Ich sehe nämlich nicht ein, mir in meinem letzten Jahr den Hauspokal durch die Lappen gehen zu lassen!"
"Ooch Hermine", meinte Ron. "Laß ihr doch noch ein bisschen Zeit zum Eingewöhnen, sie wird sich schon anpassen. Und der Spaß war doch wirklich die zwanzig Punkte wert."
***
Emily dachte jedoch gar nicht daran, sich zurückzuhalten.
Sie bat in ‚Geschichte der Zauberei' Professor Binns, er möchte doch so freundlich sein, sie aufzuwecken, falls sein Unterricht - wider Erwarten - doch noch interessant zu werden drohte (das gab weitere 10 Punkte Abzug), und bekam es zu guter Letzt auch noch fertig, sich mit dem so gutmütigen Professor Flitwick anzulegen.
Beim Abendessen war Emily zwar das Gesprächsthema Nummer eins in allen Häusern (sogar noch vor Professor Mayflower und Miss Twinkleto), hatte es aber auch geschafft, dass Gryffindor insgesamt 40 Punkte verloren hatte.
"Gespannt bin ich auf die Schau, wenn sie morgen in ‚Zaubertränke' mit Snape zusammenrauscht", sagte Ron hoffnungsvoll, als sie später im Gemeinschaftsraum der Gryffindors zusammensaßen. "Vielleicht bekommt unser Meister Schmuddelhaar dann endlich mal eine wohlverdiente Lektion erteilt!"
"Die er umgehend an uns auslassen wird", setzte Harry hinzu. "Und falls du es nicht bemerkt haben solltest: Snape ist heute zum Frühstück tatsächlich mal mit gewaschenen Haaren erschienen."
"Es wird doch nichts Ernstes sein?" Fragte Ron hämisch.
"Na ja." Lavander, die das Gespräch mitbekommen hatte, grinste genauso hämisch zurück. "Anscheinend hat er ein Auge auf Miss Twinkleto geworfen."
"WAS??" Ron fuhr entgeistert aus seinem Sessel in die Höhe.
"Na klar", fuhr Lavander genüsslich fort. "Oder habt ihr etwa nicht bemerkt, wie er sie die ganze Zeit über anhimmelt?"
"Da wird er aber nicht weit kommen", meinte Harry. "Unsere wunderschöne Miss Twinkleto hatte nämlich während des gesamten Abendessens nur Augen für den Schönling Mayflower."
Lavander, Hermine und alle anderen Mädchen, die diesen letzten Satz auch gehört hatten, machten entsetzte Gesichter.
"Na klasse", meinte Ron, noch bevor jemand etwas dazu sagen konnte. "Und das wird Snape garantiert nicht entgangen sein. Ihr könnt euch sicher vorstellen, welche Laune er morgen haben wird …"
"… und wenn dann Emily irgendwas Dummes sagt …", meinte Lavander,
"… wäre man besser am anderen Ende der Welt", vollendete Harry den Satz.
"Das reicht jetzt", sagte Hermine energisch. "Emily, kann ich mal kurz mit dir reden?"
"Worüber?" Emilys gelangweilte Stimme erklang aus der hintersten Ecke des Raumes, wo sie ganz alleine saß und sich in ein Buch vergraben hatte.
"Wegen dir haben wir heute vierzig Punkte verloren …", begann Hermine.
"Na wenn schon."
"Es mag ja sein, dass dich das nicht interessiert, aber wir würden alle gerne auch in diesem Jahr den Hauspokal gewinnen. Würdest du dich deshalb BITTE in Zukunft etwas zurückhalten?"
Emily schien zu überlegen. "Ich werd's versuchen", meinte sie dann. "Eigentlich will ich ja niemandem Ärger machen, aber … aber ich weiß auch nicht, was mich dann immer packt, es ist, als ob mein Mundwerk dann so eine Art Eigenleben entwickelt. Ich kann einfach nie meine Klappe halten."
"Das verlangt ja auch niemand. Aber du könntest doch ein bisschen … hmmm … diplomatischer reagieren, gerade bei Snape. Der haßt uns sowieso und macht alle Gryffindors beim geringsten Anlaß zur Schnecke."
"Ihr habt doch nicht etwa alle Angst vor diesem Wicht?", wunderte sich Emily.
"Warte nur ab, bis du ihn voll in Aktion erlebst", meinte Parvati nur. "JEDER hat Angst vor Snape, wenn der seinen Anfall kriegt!"
Alle Umstehenden nickten zustimmend.
"Ihr wisst gar nicht, was es bedeutet, richtige Angst zu haben", sagte Emily leise. "Ich wünschte, ich hätte eure Probleme!"
"Was hast du denn eigentlich für ein Problem", erkundigte sich Hermine. "Denn dass du eines hast, ist wirklich nicht zu übersehen!"
Emily schaute sie geradeheraus an, diesmal ohne jeglichen Spott oder Verachtung in ihrem Blick. "Glaub mir, das WILLST du nicht wissen", sagte sie dann sehr ernst.
"Und wenn du den Rest deines Lebens ohne Albträume verbringen möchtest, frag mich nie wieder danach."
Harry musterte sie voller Neugier. "Vielleicht könnten wir dir irgendwie helfen", schlug er vor. "Wir sind schließlich schon mit ganz anderen Sachen fertig geworden."
"Angeber", entgegnete Emily, jedoch nicht unfreundlich. "Es gibt Dinge, die auch einen Harry Potter überfordern - und das solltest du besser glauben."
Dann schien sie zu überlegen. "Vielleicht könntest du doch etwas für mich tun", meinte sie dann zögernd. "Du hast Avada Kedavra überlebt, nicht wahr?"
Harry nickte nur, gespannt, auf was sie hinauswollte.
"Kannst du mir sagen, wie du das gemacht hast?"
Harry war verblüfft. "Ich habe gar nichts gemacht", meinte er dann. "Daß der Fluch bei mir versagt hat, habe ich meiner Mutter zu verdanken - und es hat sie das Leben gekostet."
"Das tut mir leid", sagte Emily leise. "Es muß schrecklich sein, jemanden zu verlieren, den man liebt. Doch genau das …" Sie biß sich auf die Lippen, als ob sie bereits zuviel verraten hätte.
"Vergiß es einfach", sagte sie dann. "Es tut mir leid, dass ich gefragt habe." Und mit diesen Worten versenkte sie sich wieder in ihr Buch und war für niemanden mehr ansprechbar.
Zurück blieb ein ratloser Haufen Gryffindors, deren Neugierde allerdings aufs Heftigste geweckt worden war. Was war los mit Emily McElwood?