Das Auge des Ares

 

 

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Kapitel 8: Vollmond



Am nächsten Morgen herrschte im Turm der Gryffindors gedrückte Stimmung. Harry und Ron gingen gemeinsam in den Gemeinschaftsraum. Dort wurden sie bereits von Sirius und Remus erwartet. Die beiden Männer saßen vor dem Kamin und unterhielten sich.
„Guten Morgen Jungs, schöne Weihnachten“, sagte Sirius und lächelte ihnen zu, aber sein Lächeln sah nicht wirklich fröhlich aus. Beide Männer hatten dunkle Ringe unter den Augen und sahen sehr mitgenommen aus. Harry vermutete, dass sie noch bis spät in die Nacht darüber nachgedacht hatten, was jetzt zu tun war.
„Guten Morgen, euch auch schöne Weihnachten“, antwortete Harry und ging zu seinem Paten.
Gemeinsam gingen alle vier zu dem großen Christbaum, unter dem die Geschenke warteten. Sie setzten sich um den Baum, doch keiner hatte Lust, als erster die Geschenke zu öffnen. Es war einfach keine Weihnachtsstimmung vorhanden.
„Na kommt schon, es hat keinen Sinn die Köpfe hängen zu lassen, wir können vorerst nichts mehr tun“, versuchte Sirius sie aufzumuntern, doch er klang nicht sehr überzeugend.
Schließlich griff Ron als erster nach seinen Geschenken, und begann sie auszupacken. Seine Laune besserte sich nicht sonderlich, als er einen braunen Pullover von seiner Mutter in den Händen hielt. „Immer braun, warum immer braun?“, maulte er, und die anderen mußten ungewollt lachen.
Auch Harry griff nun nach dem ersten Paket, und begann es auszupacken. Es war von Hagrid. Als er es öffnete fielen ihm Dutzende von Keksen in den Schoß, Hagrid hatte scheinbar wieder einmal gebacken. Von Mrs. Weasley bekam er, wie Ron, einen Pullover, doch seiner war quietsch-türkis.
Nach und nach öffnete er die Päckchen, bis er das Letzte in der Hand hielt. Es war von Hermine. Harry drehte es einen Moment in den Händen. Es fühlte sich an wie ein Buch. Typisch Hermine, dachte er, wahrscheinlich irgendein Lehrbuch, damit er sich auf die ZAG-Prüfungen, am Ende des Schuljahres vorbereiten sollte. Es riß das Papier auf und es kam tatsächlich ein Buch zum Vorschein. Harry staunte. Hermine hatte sich mal wieder selbst übertroffen: es war ‚Quidditch im Wandel der Zeiten Band II‘. Harry hatte überhaupt nicht gewußt, dass es einen zweiten Band gab. Fasziniert schlug er das Buch auf und begann zu lesen.
„Komm, Harry, frühstücken“, riß ihn einige Minuten später Ron aus seiner Lektüre. Widerwillig legte Harry das Buch aus der Hand und erhob sich. Als er sich umdrehte konnte er sich ein Lächeln nicht verkneifen. Professor Dumbledore hatte wirklich an alles gedacht. Einer der Tische des Gemeinschaftsraumes war mit einem üppigen Frühstück für vier Personen gedeckt, da Sirius natürlich nicht in der Großen Halle frühstücken konnte. Gemeinsam setzten sie sich und begannen zu essen.
Nach dem Frühstück stand Lupin auf. „So meine Lieben, ich muß euch leider für ein oder zwei Tage alleine lassen. Als Professor Snape gehört hat, dass ich nach Hogwarts komme, hat er mich gebeten, eine neue Variante seines Wolfstrankes zu testen. Heute Abend ist es so weit, dann ist Vollmond.“
„Aber warum kannst du da nicht bei uns im Turm bleiben?“, fragte Harry irritiert.
„Severus hat gesagt, dass er völlig neue Komponenten in den Trank gemischt hat, und es können eventuell Nebenwirkungen auftreten. Es ist nur zu eurem Besten. Stellt euch vor, der Trank wirkt nicht richtig, und ich greife euch hier im Turm an. Das möchte ich auf keinen Fall riskieren“, versuchte Lupin seinen Standpunkt zu erklären.
„Aber Professor Lupin“, sagte Ron vorsichtig, „glauben Sie, dass es so klug ist Snape zu trauen? Wir sind uns ja auch nicht sicher, ob er es vielleicht war, der Harrys Amulett geklaut hat.“
Lupin lächelte gequält. „Ron, Professor Dumbledore vertraut Professor Snape, und ich muß ehrlich sagen, dass mir kaum eine andere Wahl bleibt. Er ist der Einzige, der dazu fähig ist, diesen Trank zu brauen. Er hat ihn selbst entwickelt.“
„Machs gut, Moony, halt die Ohren steif. Du weißt, wo du mich findest, falls irgend etwas ist“, sagte Sirius und zwinkerte seinem Freund zu.
Remus Lupin nickte ihnen noch einmal zu und verließ dann den Gryffindor-Turm. Den Rest des Tages verbrachten Harry, Ron und Sirius im Gemeinschaftsraum. Sirius gab wieder ein paar seiner alten Geschichten zum Besten, und Harry und Ron berichteten ihrerseits von den Vorkommnissen während des letzten halben Jahres. Außerdem diskutierten sie noch einmal ausgiebig darüber, wer wohl das Amulett gestohlen haben könnte. Harry und Ron waren fest davon überzeugt, dass Snape es im Auftrag von Voldemort getan hatte, Sirius war sich allerdings nicht so ganz sicher.
Nach dem Abendessen holte Ron seine Spielkarten, und sie erklärten Sirius die Regeln von ‚Snape explodiert‘. Es dauerte nicht lange, und Sirius beherrschte das Spiel ebenso gut wie Harry und Ron. Sie waren gerade bei der achten oder neunten Runde, als das Portrait vor dem Eingang des Turms zur Seite schwang, und Professor Dumbledore den Raum betrat. Er schien sehr außer Atem zu sein und hatte einen gehetzten Ausdruck in den Augen. Sirius sprang sofort von seinem Stuhl auf, der geräuschvoll nach hinten umkippte, und rannte auf den Schulleiter zu.
„Um Gottes Willen, Albus, ist etwas passiert?“, rief er aufgeregt. Harry und Ron waren mittlerweile ebenfalls aufgestanden, und gingen auf Dumbledore und Sirius zu. Dumbledore schnaufte immer noch, schien sich aber langsam wieder zu erholen.
„Sirius, du mußt uns helfen. Du bist der Einzige, der ihn im Zaum halten kann.“
„Ja, aber was ist denn geschehen?“, fragte Sirius erneut, mit einem angstvollen Unterton in der Stimme.
Dumbledore atmete tief durch, dann antwortete er: „Der Wolfstrank scheint nicht richtig zu wirken, Remus ist aus dem Kerker entkommen und streunt jetzt durch die Untergeschosse der Schule.“
Sirius war schlagartig jegliche Farbe aus dem Gesicht gewichen. Harry blickte Ron mit aufgerissenen Augen an. Er wollte sich lieber nicht vorstellen, was passieren würde, wenn Remus in diesem Zustand irgend jemandem begegnen würde. Niemand sonst in Hogwarts erwartete auch nur im entferntesten, dass sich ein Werwolf auf dem Schulgelände herumtreiben könnte. Glücklicherweise waren die meisten Schüler zu Hause.
„Harry, Ron, ihr bleibt im Gemeinschaftsraum. Hier seid ihr sicher. Ein Werwolf ist sehr gefährlich, vor allem, wenn der Mensch den Wolf nicht unter Kontrolle hat“, sagte Dumbledore zu den Jungen und wandte sich wieder dem Ausgang zu. Sirius folgte ihm und während er durch das Portrait-Loch stieg, verwandelte er sich in einen großen, schwarzen Hund. Das Loch schloß sich hinter ihnen, und Harry und Ron blieben alleine zurück.
„Was mag da passiert sein?“, fragte Harry seinen Freund.
„Das ist doch ganz klar, Snape hat versagt. Er hat den Trank für Professor Lupin in den Sand gesetzt“, antwortete Ron, und konnte sich ein schadenfrohes Grinsen nicht verkneifen.
„Ron, das ist nicht lustig, wenn irgend jemand Remus über den Weg läuft, passiert eine Katastrophe.“
Ron ignorierte Harrys Ermahnung und spekulierte weiter: „Oder meinst du, er hat den Trank absichtlich vergeigt? Das wäre ja ein Hammer.“
Harry schüttelte verständnislos den Kopf. „Komm, laß uns aufräumen, ich habe keine Lust mehr auf ‚Snape explodiert‘.“ Er ging zurück zum Tisch und hob den Stuhl auf, den Sirius in seiner Eile umgestoßen hatte.
„Ron, schnell komm her, schau mal“, rief Harry vom Tisch herüber und Ron ging zu seinem Freund um nachzusehen, was er wollte. Als er Harry erreicht hatte blickte er in die Richtung, die Harry ihm wies. Auf dem Boden lag Sirius‘ Zauberstab.
„Der muß ihm aus der Tasche gefallen sein, als er aufgesprungen ist“, sagte Harry nachdenklich.
„Sieht ganz so aus. Was sollen wir jetzt machen?“, fragte Ron unsicher.
„Ich weiß nicht, solange er ein Hund ist, ist er sicher, aber wenn er sich zurück verwandelt hat er ohne seinen Zauberstab keine Chance gegen einen Werwolf“, sagte Harry, und leichte Sorge schwang in seiner Stimme mit.
„Dann gibt es nur eine Möglichkeit“, sagte Ron entschlossen, „wir müssen ihm den Zauberstab bringen.“
„Bist du verrückt? Wenn wir Remus über den Weg laufen, sind wir tot“, entrüstete Harry sich, „und wenn Sirius ihm über den Weg läuft ist er tot“, fügte er leiser hinzu.
„Laß uns gehen“, sagte er entschlossen und zog Ron zum Ausgang des Gryffindor-Turms. Harry steckte den Zauberstab in seinen Umhang und sie verließen gemeinsam den Gemeinschaftsraum.
Die Gänge waren wie ausgestorben. Harry und Ron lief ein kalter Schauer über den Rücken. Irgend etwas an dieser Ruhe war beängstigend. Eilig gingen sie weiter. Sie wollten die Stille der oberen Flure so schnell wie möglich hinter sich lassen.
Als sie den Korridor im ersten Stock erreicht hatten, blieb Ron wie angewurzelt stehen. Er spähte angespannt in die Dunkelheit und lauschte. Harry blieb ebenfalls stehen und flüsterte: „Hast du was gehört?“
„Ich weiß nicht“, flüsterte Ron zurück, „ich glaube da vorne hat sich etwas bewegt.“
Geräuschlos zogen sie ihre Zauberstäbe aus dem Umhang und gingen vorsichtig weiter. Sie bogen um die nächste Ecke, und blickten in zwei glühende Augen.
Lumos“, schrie Harry und richtete seinen Zauberstab auf die Gestalt vor ihnen. Als das Licht ihr Gegenüber traf, fauchte es, und sträubte die Nackenhaare.
„Mrs. Norris“, keuchte Ron, „diese verdammte Katze, ich hab gedacht, ich sterbe vor Angst.“
Auch Harry atmete erleichtert auf. „Los, lass uns weitergehen, bevor sie Filch holt. Den können wir jetzt wirklich nicht gebrauchen.“
Sie gingen weiter und Mrs. Norris starrte ihnen bösartig hinterher. Harry und Ron bogen um die nächste Ecke und erstarrten. Etwa 15 Meter vor ihnen stand ein riesiger Werwolf und fletschte seine blitzenden, langen Zähne. Ganz langsam kam er auf Ron und Harry zu.
„Harry, er ist nicht mehr im Keller, was sollen wir jetzt machen?“, fragte Ron mit zitternder Stimme.
„Ganz ruhig bleiben, wenn wir wegrennen könnte ihn das reizen“, flüsterte Harry, war sich aber nicht sicher, ob seine Spekulation stimmte.
Der Werwolf duckte sich leicht und schlich weiter vorwärts. In dem schummrigen Licht konnten sie erkennen, wie sich seine Nackenhaare sträubten. Schleimiger Geifer tropfte aus seinem Maul, und seine Augen funkelten gefährlich. Harry und Ron gingen langsam rückwärts, ohne den Werwolf aus den Augen zu lassen.
„Vielleicht schaffen wir es, hinter der nächsten Biegung zu verschwinden, bevor er es bemerkt“, flüsterte Ron und schielte aus den Augenwinkeln zu Harry, ohne dabei den Wolf ganz aus den Augen zu lassen.
„Ich glaube nicht, dass er darauf reinfällt. Das ist kein normaler Wolf, der ist nicht doof. Was immer wir auch unternehmen, wir dürfen ihn nur nicht verletzen, denk dran, das ist Lupin“, flüsterte Harry zurück, und machte noch einen vorsichtigen Schritt rückwärts.
Der Werwolf kam immer näher. Er war nur noch wenige Meter von ihnen entfernt. Sie sahen wie er sich leicht zusammen kauerte um zu einem Sprung anzusetzen. In dem Moment, als er sich vom Boden abstieß rief Harry mit leicht panischer Stimme: „Inimicus paries“ und schwang seinen Zauberstab. Der Werwolf prallte genau an der höchsten Stelle seiner Flugkurve gegen eine unsichtbare Mauer und schlug mit einem gewaltigen Schlang auf dem Steinboden auf. Für einen kurzen Augenblick blieb er benommen liegen, dann rappelte er sich wieder auf und schüttelte sich.
„Das war genial“, johlte Ron und sah Harry bewundernd an.
„Ich weiß nicht, ob ihn das lange aufhält“, sagte Harry leise und ließ den Werwolf nicht aus den Augen. Der Wolf fixierte die beiden Jungen wieder und fletschte die Zähne. Für einen Moment blieb er bewegungslos auf der Stelle stehen, dann schlich er wieder langsam vorwärts. Die unsichtbare Mauer schien ihn nicht mehr zu stören. Schritt für Schritt kam er näher und gab ein tiefes Knurren von sich. Der Wolf hatte sie fast erreicht, als Ron seinen Zauberstab auf das Tier richtete und „Petrificus Totalus“ rief. Die Beine des Werwolfes klappen unter seinem Bauch zusammen und seine Zähne wurden wie von Zauberhand aufeinander gepresst, so dass er sein Maul nicht mehr öffnen konnte.
„Auch nicht schlecht“, keuchte Harry und grinste Ron kurz an.
Der gefesselte Werwolf gab immer noch ein bedrohliches Knurren von sich und versuchte sich aus Leibeskräften von der Ganzkörperklammer zu befreien. Es dauerte nur wenige Sekunden und er konnte bereits seine Beine wieder etwas bewegen. Ron riß die Augen auf und rief: „Kann man das Biest denn gar nicht aufhalten?“ Seine Stimme überschlug sich fast vor Angst.
In diesem Moment wurden Ron und Harry unsanft zur Seite gestoßen und ein großer, schwarzer Hund sprang an ihnen vorbei, direkt auf den Werwolf zu. Er fletschte die Zähne und starrte auf den Wolf, der bereits wieder seine Beine bewegen konnte. Es dauerte noch einige Sekunden, bis der Werwolf wieder auf seinen Füßen stand und den Hund anknurrte.
Der Hund machte einen Satz auf den Wolf zu und packte ihn am Genick. Dann schleifte er ihn in Richtung Kerker davon. Der Werwolf wehrte sich aus Leibeskräften, konnte sich jedoch nicht aus dem festen Biß des Hundes befreien.
Als die beiden Tiere hinter der nächsten Ecke verschwunden waren atmeten Harry und Ron auf. Sirius hatte ihnen das Leben gerettet. Wer weiß, wie lange sie Lupin noch in Schach hätten halten können.
Plötzlich legte sich eine Hand von hinten auf Harrys und Rons Schulter. Beide schrieen vor Schreck kurz auf und wirbelten herum. Vor ihnen stand Professor Dumbledore. Sein Gesicht war bleich und er starrte die beiden Jungen entsetzt an.
„Seid ihr beide lebensmüde?“, fragte er sie mit aufgelöster Stimme. „Er hätte euch umbringen können. Was macht ihr hier?“
„Professor, wir ...“, stammelte Ron.
„Wir wollten Sirius seinen Zauberstab bringen, er hat ihn in unserem Gemeinschaftsraum vergessen“, übernahm Harry die Initiative.
„Aber Harry, Ron, Sirius hat seinen Zauberstab doch gar nicht gebraucht. Er wäre nie im Leben so dumm, sich einem Werwolf als Mensch gegenüber zu stellen. Was habt ihr euch nur dabei gedacht?“ Harry und Ron ließen beschämt die Köpfe hängen.
„Kommt mit, ich bringe euch zurück in den Gryffindor-Turm“, sagte Dumbledore und führte die beiden Jungen zurück zum Portrait der fetten Dame. Auf dem ganzen Weg sprachen sie kein Wort. Harry fühlte sich elend. Sicher war Professor Dumbledore nun enttäuscht von ihm. Zuerst hatte er nichts von dem Amulett erzählt, und nun hatten er und Ron gegen die strikte Anweisung der Erwachsenen den Gemeinschaftsraum verlassen.
Als sie das Portrait-Loch erreicht hatten sagte Ron das Passwort und die beiden Jungen betraten den leeren Raum. Professor Dumbledore sah ihnen noch einen Moment nach, dann schloss er die Tür von außen und ging in sein Büro.
Ron und Harry setzten sich niedergeschlagen auf zwei Sessel vor dem Kamin und starrten stumm in die Flammen. Keiner von beiden konnte ein Wort sagen, zu sehr waren sie mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt.
Nach etwa eine halbe Stunde öffnete sich das Portrait-Loch und Sirius betrat das Zimmer. Harry und Ron sahen von ihren Sesseln auf und beobachteten wortlos, wie er zu ihnen herüber kam. Als Sirius die beiden Jungen erreicht hatte wollte Harry eine Entschuldigung stammeln, aber Sirius ließ ihn nicht zu Wort kommen. Er sah ihn mit müden Augen an und sagte ernst: „Harry, ich bin maßlos enttäuscht von dir. Ich hoffe das war euch eine Lehre.“
Weder Harry noch Ron konnten darauf antworten. Beide sahen Sirius nur beschämt an. Nach einer kurzen Pause fügte Sirius tonlos hinzu: „Geht jetzt ins Bett, es ist spät.“
Ohne ein Wort erhoben Ron und Harry sich und schlichen bedrückt nach oben in ihren Schlafsaal. Harry hatte Mühe seine Tränen zurück zu halten. Er hätte es leichter verkraften können, wenn Sirius ihn angeschrieen hätte, ihn zur Rede gestellt hätte, ihn beschimpft hätte. Aber diese Enttäuschung in den Augen seines Paten war nur schwer zu ertragen. Sirius war der letzte Mensch auf der Welt, den Harry enttäuschen wollte.
An diesem Abend lag Harry noch lange wach, und dachte über die Ereignisse der letzten Tage nach. Er verfluchte sich für seine Dummheit und Naivität.
Es waren schon viele Stunden vergangen, als er auf seine Uhr blickte. Es war bereits kurz nach drei. Er hörte Ron, der sich in seinem Bett hin und her warf. Wahrscheinlich war auch er noch wach. Sie hatten, seit sie den Gemeinschaftsraum an diesem Abend betreten hatten, kein Wort mehr miteinander gesprochen, doch Harry wußte, dass sein Freund das selbe fühlen mußte wie er.

Harry konnte sich nicht daran erinnern, wann er an diesem Abend eingeschlafen war und als er am nächsten Morgen erwachte fühlte er sich wie gerädert. Leise stand er auf und zog sich an. Er hoffte inständig, dass sich später irgend eine Möglichkeit ergeben würde um noch einmal mit Sirius zu sprechen. Er wollte sich entschuldigen, sagen, dass es ihm leid tat, auch wenn dies den gestrigen Abend nicht ungeschehen machen würde.
Als er sich fertig angezogen hatte setzte Harry sich auf sein Bett und nahm ‚Quidditch im Wandel der Zeiten Band II‘. Vielleicht würde das Buch ihn etwas ablenken.
„Harry“, riß Ron seinen Freund aus den Gedanken.
Harry schreckte hoch. „Was ist, ich lese“, antwortete er etwas schroffer, als er eigentlich wollte.
Ron zögerte einen Moment dann sagte er vorsichtig: „Du liest seit einer viertel Stunde die selbe Seite.“
Harry stutzte kurz. Ron hatte Recht, er hatte tatsächlich die ganze Zeit auf ein und die selbe Seite gestarrt. „Entschuldige Ron, ich wollte dich nicht so anfahren“, sagte Harry schließlich.
„Ist schon gut“, antwortete Ron und lächelte gequält. „Tut mir leid, dass ich uns in diesen Schlamassel gebracht habe“, murmelte Ron leise und sah Harry an.
„Was?“, frage dieser verwirrt.
„Na ja, es war doch meine Idee Sirius den Zauberstab zu bringen. Und jetzt ist er sauer.“
Harry schüttelte energisch den Kopf. „Es war genauso meine Idee, ich will nicht, dass du dir die Schuld dafür gibst. Wir hätten beide wissen müssen, dass es Wahnsinn ist da hinaus zu gehen, wenn ein Werwolf durch die Schule schleicht.“
„Ja, du hast wohl recht“, antwortete Ron und schwieg einen Moment. Dann fügte er hinzu: „Aber es war echt cool, wie das Vieh gegen deine unsichtbare Mauer geknallt ist.“ Beide konnten sich ein leichtes Grinsen nicht verkneifen.
„Mach dir keine Sorgen, Harry, Sirius wird sich schon wieder beruhigen“, versuchte Ron seinen Freund aufzumuntern, doch es klang nicht wirklich überzeugend.
Gemeinsam verließen sie ihren Schlafsaal und gingen die Treppe hinunter in den Gemeinschaftsraum um zu frühstücken. Sirius saß bereits am Tisch und aß einen Toast mit Marmelade. Als Harry und Ron den Raum betraten sah er kurz auf, widmete sich aber sofort wieder seinem Frühstück. Er sah noch mitgenommener aus als am Vortag. Seine Augen waren matt und ausdruckslos, sein Gesicht war grau und farblos und sein Haar stand ihm wirr vom Kopf. Dieser Anblick erinnerte Harry an seine erste Begegnung mit Sirius. Damals war er ständig auf der Flucht vor den Zauberern des Ministeriums gewesen, ohne ein sicheres Versteck oder eine Zuflucht.
Wortlos setzten Ron und Harry sich und begannen ebenfalls zu frühstücken. Ron schien großen Hunger zu haben und langte herzhaft zu, doch Harry brachte keinen Bissen hinunter. Missmutig schob er seinen Honigtoast von einer Seite des Tellers zur anderen, ohne ihn jedoch anzurühren.
Schließlich stand er auf und ging zurück in seinen Schlafsaal. Dort holte er sein ‚Lehrbuch der Zaubersprüche, Band 5‘ aus seiner Tasche und legte sich auf sein Bett. Es wurde wirklich langsam Zeit, dass er anfing für seine ZAG-Prüfungen am Ende des Schuljahres zu lernen.
Als Ron eine halbe Stunde später in den Schlafsaal kam sah Harry von seinem Buch auf.
„Harry, du solltest versuchen mit ihm zu reden. Ihr könnt euch nicht den Rest der Ferien anschweigen“, sagte Ron und sah Harry eindringlich an.
Harry schüttelte den Kopf. „Jetzt nicht, ich lerne, das siehst du doch“, antwortete Harry abwesend.
„Wenn du schon lernst, dann halt wenigstens das Buch richtig herum“, sagte Ron ungerührt und verließ wieder den Schlafsaal.
Erst zum Abendessen ging Harry wieder hinunter in den Gemeinschaftsraum. Er hatte den ganzen Tag in sein Buch gestarrt, aber gelernt hatte er nicht.
Das Abendessen verlief ebenso schweigend wie das Frühstück. Wieder stocherte Harry lustlos in seinen Erbsen. Er hatte einfach keinen Appetit.
Nach dem Essen erhob sich Sirius und ging zu einem der Fenster. Wortlos blickte er auf die untergehende Sonne.
„Jetzt mach schon“, zischte Ron seinem Freund zu. Harry erhob sich langsam und ging vorsichtig zu seinem Paten hinüber.
„Sirius“, sagte er leise, als er ihn erreicht hatte.
Sirius wandte seinen Blick vom Fenster ab und sah Harry an. In seinen Augen lag ein Ausdruck, den Harry noch nie zuvor bei ihm gesehen hatte. Es war eine Mischung aus Resignation und Enttäuschung. Harry zögerte einen Moment, dann sagte er noch leiser: „Es tut mir leid, ich wollte das nicht.“
Sirius sah Harry nur an. Es schien eine Ewigkeit zu dauern bevor er antwortete: „Ich weiß.“
Harry wusste nicht was er darauf antworten sollte, doch bevor ihm eine passende Antwort einfiel fuhr Sirius sanft fort: „Harry, ich hatte solche Angst um dich. Versprich mir, dass du nie wieder so etwas Dummes machen wirst.“
Harry nickte stumm. Er presste die Lippen aufeinander um zu verhindern, dass ihm die Tränen in die Augen stiegen. Sirius blickte ihn immer noch an und sagte leise: „Laß uns das vergessen.“
Harry fiel seinem Paten um den Hals. In der Zwischenzeit war auch Ron langsam herüber gekommen. Gemeinsam setzten sie sich vor den Kamin. Obwohl sie auch jetzt nicht viel redeten war die Stimmung nun viel entspannter.
„Auch wenn ich es nicht gerne zugebe“, sagte Sirius später am Abend, „aber Moony, Tatze, Krone und Wurmschwanz waren auch nicht besser als ihr beide. Wir haben uns damals auch viel zu oft in Gefahren begeben, ohne abschätzen zu können, wie gefährlich die Situationen wirklich waren.“
Harry lächelte.
Im Laufe des Abends stellte sich die alte Herzlichkeit, die vor diesem Zwischenfall geherrscht hatte, wieder vollkommen ein und Harry überkam ein Gefühl des Bedauerns als es Zeit wurde ins Bett zu gehen. Das erste Mal seit Sirius und Remus in Hogwarts angekommen waren konnte Harry wieder ruhig schlafen.
Am nächsten Morgen nach dem Frühstück kam Remus Lupin zurück. Er sah sehr mitgenommen und ausgemergelt aus. Unter seinen Augen waren dunkle Ringe, seine Augen waren matt und er schien körperlich sehr erschöpft. Sogar sein abgetragener Umhang schien ihm noch schlaffer als sonst von den Schultern zu hängen. Die beiden Vollmond-Tage hatten ihm ziemlich zugesetzt und die Verwandlung in einen Werwolf hatte unheimlich an seinen Kräften gezehrt.
Wie zu erwarten konnte er sich an die Vorkommnisse der vorletzten Nacht nicht mehr erinnern. Der Wolfstrank hatte in dieser Nacht so gut wie keine Wirkung gezeigt und Remus war wie in früheren Zeiten nur seinen Instinkten gefolgt. Als seine Freunde ihm erzählten was genau vorgefallen war machte er sich große Vorwürfe und verfluchte seine Existenz als Werwolf.
Doch trotz dieses tragischen Zwischenfalls waren seine Experimente mit Professor Snape durchaus positiv gewesen. Nach diesem eindeutigen Fehlschlag hatte Snape die Formel für den Wolfstrank noch einmal modifiziert, und in der zweiten Nacht hatte Lupin nicht nur sein volles Bewusstsein behalten, auch die normalerweise sehr qualvolle Verwandlung war fast schmerzfrei verlaufen.
Viel zu schnell waren die gemeinsamen Tage vorbei, und Remus und Sirius mussten zu Harrys und Rons großem Bedauern wieder abreisen.
Der Rest der Ferien verlief ereignislos. Harry und Ron verbrachten ihre Tage mit schlafen und faulenzen und lachten immer wieder über die Geschichten, die Sirius und Remus ihnen erzählt hatten.

Am letzten Ferientag kamen die restlichen Schüler, die ihre Weihnachtsferien zu Hause bei ihren Familien verbracht hatten, wieder nach Hogwarts. Harry und Ron warteten ungeduldig darauf, ihrer Freundin Hermine alles zu erzählen, was sich während der Ferien abgespielt hatte.
Hermine war fast ein bisschen beleidigt, als sie erfuhr, dass Sirius und Remus in Hogwarts gewesen waren und sie die Beiden nicht hatte treffen können. Als Ron und Harry ihr allerdings erzählten was sich noch abgespielt hatte, wurde Hermine still. Sie war sehr beunruhigt, als sie ihr sagten, dass das ‚Auge des Ares‘ gestohlen worden war.
Harry hatte fast ein paar Bedenken ihrer Freundin von der Begegnung mit dem Werwolf zu erzählen, aber da sie nun schon einmal angefangen hatten, war es wohl nur fair, ihr alles zu berichten. Hermine war genau wie Harry es erwartet hatte schockiert, als sie diesen Teil der Geschichte hörte und hielt den Beiden eine lange Standpauke. Obwohl auch sie oft an den nächtlichen Ausflügen der Freunde beteiligt gewesen war, widerstrebte es ihr zutiefst, sich einer direkten Anweisung eines Erwachsenen zu widersetzen.
Als sie fertig war sagte sie: „Ich habe euch aber auch etwas aus den Ferien mitgebracht.“ Harry und Ron blickten sie fragend an. Triumphierend zog Hermine zwei große Bogen Pergament aus ihrer Tasche und reichte sie Harry und Ron.
„Was ist das?“, fragte Ron.
„Schau doch genau hin“, antwortete Hermine leicht beleidigt, „das ist ein Wiederholungsplan für die Abschlussprüfungen. Einer für dich und einer für Harry.“
Beide lächelten gequält. „Oh, vielen Dank Hermine, wir sind dir ja so dankbar“, sagte Ron leicht sarkastisch.
Am nächsten Tag begann wieder der Unterricht, und Harry, Ron und Hermine hatten das Gefühl, dass allen Lehrern während der Ferien schlagartig klar geworden war, dass sie nun die fünften Klassen auf die bevorstehenden ZAG-Prüfungen vorbereiten mussten.
Professor McGonagall gab unmenschlich viele Hausaufgaben, welche die Schüler jedes Mal für Stunden beschäftigten. Professor Trelawney prophezeite ihnen allen, dass die Prüfungen in diesem Jahr besonders schwer werden würden (als ob das nicht in ihrer eigenen Hand lag) und Professor Sprout hatte ihr Unterrichtstempo dermaßen angezogen, dass alle Schüler das Gefühl hatten die Prüfungen wären bereits nächste Woche. Nur der Unterricht von Professor Aspervir war und blieb ein Witz.
Am schlimmsten jedoch war der Unterricht von Professor Snape. Harry hatte sich nicht vorstellen können, dass der Lehrer noch unbarmherziger und fieser sein konnte als er es ohnehin schon war, doch Snape triezte sie erbarmungslos. In ‚Verteidigung gegen die dunklen Künste‘ mussten die Schüler sich miteinander duellieren, wobei Snape unzählige hoch komplizierte Flüche von ihnen abverlangte. In ‚Zaubertränke‘ ließ er sie schwierige Verwirrungstränke brauen, und hatte an jedem Gebräu etwas auszusetzen. Gryffindor hatte noch nie so viele Punkte innerhalb so weniger Unterrichtsstunden verloren wie in diesen Wochen, denn Snape ahndete jeden noch so kleinen Fehler erbarmungslos.
Doch all diese Quälereien waren nichts gegen Harrys abendlichen Unterricht. Sie waren mittlerweile dazu übergegangen Angriffs- und vor allem Verteidigungsflüche zu üben, die so anspruchsvoll waren, dass Harry oft mehrere Stunden brauchte, bis man auch nur halbwegs erkennen konnte, was der Zauber bewirken sollte. Gegen diese Zaubersprüche kamen ihm die Flüche aus dem Unterricht für ‚Verteidigung gegen die dunklen Künste‘ wie ein Kinderspiel vor. Professor Snape legte in diesen Stunden noch größeren Wert als sonst auf die perfekte Ausführung der Zauber und entließ Harry nie, bevor die Flüche nicht präzise und exakt ausgeführt waren.
Oft kam Harry an diesen Abenden erst nach Mitternacht wieder zurück in den Gryffindor-Turm. Meistens endeten solche Stunden nicht ganz ohne Nachwirkungen. Nicht selten zuckten Harry noch Stunden später irgendwelche Gliedmaßen, oder die Tentakel, die Snape ihm bei einer solchen Gelegenheit an den Kopf gehext hatte verschwanden erst kurz vor dem Frühstück vollständig.
Da auch das Quidditch-Training wieder begonnen hatte, war Harry fast jeden Abend unterwegs. In den wenigen Stunden, die ihm nach dem Nachmittagsunterricht blieben, war er vollauf mit seinen Hausaufgaben beschäftigt. Ohne Hermine und Ron hätte er diese Zeit sicherlich nicht überstanden. Hermine ließ ihn zwar nicht von ihren Hausaufgaben abschreiben, kontrollierte aber die seinen und sagte ihm so die richtigen Lösungen. Auch Ron unterstützte ihn wo er nur konnte.

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