The Unhappy Ending
Erzählt von Harry Potter:
Nie im Leben wird mich dieser Schrei loslassen. Er ging durch Mark und Bein. Alle Verzweiflung und Enttäuschung und Einsamkeit dieser Welt lagen darin. Und ein solcher Schmerzenslaut von einem Menschen, der sich nie erlaubt hatte, Gefühle zu zeigen, von dem daher alle, ja, ich gestehe, auch ich, in grenzenloser Ignoranz geglaubt hatten, er hätte gar keine - das war doppelt erschütternd.
Sie hatten Professor Snape hinunter in die Kerker gebracht. Nicht in "seine" Kerker, sondern in einen anderen dieser unzähligen, düsteren Kellerräume von Hogwarts, der viele Jahre lang unbenutzt geblieben war. Ein Kerker im eigentlichen Sinne, eine kleine, kalte, dunkle Zelle mit Gittern davor, und dann kam ein kleiner Vorraum und eine schwere Eisentür und ein Gang und noch so eine Tür. Dieses Gefängnis war nur ein Provisorium, so wie seine ganze Haft. Bislang galt er weder als schuldig noch unschuldig, und sie hatten ihn hierher gebracht, um bis zur weiteren Untersuchung des Falles seine Flucht zu verhindern und ihn andererseits nicht gleich nach Askaban schaffen zu müssen. Mag sein, sie kamen sich sehr menschlich deswegen vor. Sie hatten ihn vertröstet, er solle sich nicht aufregen, es würde sich bald alles klären, nur hätten sie eben momentan keine Zeit. Alles sorgte sich um Professor Dumbledore, und die Ordnung in dem Chaos, das Voldemort hinterlassen hatte, musste wiederhergestellt werden, und all das.
Ab und zu nahmen sie sich trotzdem die Zeit, hinunter zu gehen und ihn kurz zu befragen. Es kam jedoch nicht viel dabei heraus, denn sie waren in Eile, und Professor Snape waren kaum richtige Antworten zu entlocken. Er starrte sie an, als nähme er sie kaum wahr. Er hatte denselben Blick wie direkt nach dem Kampf. Ich hatte den Eindruck, er stand noch unter Schock. Ja, ich hatte den Eindruck…Warum hatten sie mich eigentlich mit da hinunter genommen? Warum meinten seit meinem Eintritt in die Zaubererwelt immer alle, ich dürfe und müsse überall dabei sein? Nie hat jemand gefragt, ob ich für irgendetwas noch zu jung sei. Ich war der große Hoffnungsträger Harry Potter, und es wurde vorausgesetzt, dass ich Voldemorts Anblick ertragen konnte, ebenso wie diesen Anblick hier und all das andere. Das ist wohl mein Schicksal. Mein Schicksal heißt Voldemort und steht mir leider als überdeutliches Zeichen auf die Stirn geschrieben. Sein Schicksal hieß auch Voldemort und war ihm als unauslöschliches Zeichen auf den Arm geschrieben. Voldemort ist tot, aber bis die Brände menschlichen Elendes, die er gelegt hat, gelöscht sind, das wird lange dauern. Mindestens eine Generation lang.
Während wir noch unten waren, kam ein aufgeregter Hauself hinunter in die Kerker gerannt. Es war eben jener Dobby, mit dem mich schon so viele Erlebnisse verbanden. Seine großen Augen wirkten noch riesiger als sonst, und seine schrille Stimme zitterte, als er quiekte: "Harry Potter und die Herren müssen schnell kommen! Professor Dumbledore stirbt! Er ist wach geworden, aber Madam Pomfrey sagt, das ist nur das letzte Aufflackern vor dem Ende. Wer noch Abschied von ihm nehmen will, muss schnell kommen! Ganz schnell!" Sie wechselten ein paar Blicke, dann rannten sie los. Nur einer konnte nicht mit. Er streckte seine Arme durch das Gitter und rief ihnen hinterher: "Halt! Bitte, nehmen Sie mich mit!" Doch niemand achtete darauf. Nur ich blieb kurz stehen, doch einer der Männer zog mich am Arm mit sich fort. Ein letztes Mal drehte ich mich um. Ich sah nur noch, wie der letzte Beamte hastig die schwere Eisentür zuschlug. Er hatte nicht einmal die Zeit gehabt, drinnen eine neue Fackel anzuzünden. Professor Snape blieb allein in völliger Finsternis zurück. Und bevor die zweite Eisentür hinter uns ins Schloss fiel und jeden Laut erstickte, hörte ich seinen Schrei. Nie im Leben wird mich dieser Schrei loslassen. Er ging durch Mark und Bein. Alle Verzweiflung und Enttäuschung und Einsamkeit dieser Welt lagen darin.
Professor Dumbledore hatte tatsächlich die Augen geöffnet, doch er schien schon halb in eine andere Welt entrückt zu sein. Wir reihten uns in die lange Schlange von Lehrern und Schülern ein und traten, einer nach dem anderen, stumm und betreten an sein Bett. Keiner fand Worte, die meisten drückten nur kurz seine Hände, die auf der Bettdecke lagen. Seine gütigen Hände, die nie geschlagen, sondern immer nur gehalten und getröstet und gegeben hatten. Er lag ganz still, nur seine Augen bewegten sich. Diese hellen Augen, die sonst fröhlich gefunkelt und gezwinkert hatten, jetzt waren sie verhangen wie von Nebelschleiern. Doch so weit sein Blick in die Ferne gerichtet war, schien er doch jeden, der von ihm Abschied nahm, anzusehen. Ob er uns erkannte? Seine Augen sahen aus, als ob sie suchten. Etwas, jemanden suchten und nicht fanden. Als der Letzte aus der endlosen Reihe vorbei defiliert war, gaben die Augen die Suche auf und schlossen sich. Professor Dumbledore stieß einen tiefen Seufzer aus, und bald darauf bestätigte uns Madam Pomfrey, dass er mit diesem Seufzer seine Seele ausgehaucht hatte.
Das milde Licht, das immer über Hogwarts geschienen hatte, war erloschen. Nie wieder würde dieser Ort das sein, was er gewesen war. Über allen lag diese schwere Bedrückung, die sie nicht sprechen und kaum atmen ließ. Sie schlichen herum und wenn sie einander begegneten, schwiegen sie sich betreten an. Zeit hatten sie trotzdem immer noch nicht. Der Mann, der uns allen so fehlte, musste bestattet werden. Viel Verwaltungskram war zu erledigen. Und immer noch war so viel aufzuräumen in den Trümmern unserer Schule und unserer Seelen. So kam es, dass Professor Snape auch die zweite, die allerletzte Gelegenheit verpasste, Abschied von Professor Dumbledore zu nehmen: sein Begräbnis. Diese traurige Feier mit ihren unzähligen Gästen von nah und fern. Professor Snape saß immer noch in Untersuchungshaft, in jenem Kerker in Hogwarts. So nah und doch so fern.
Ich verstand es wirklich nicht. Als Dumbledore starb, da waren sie in Panik und in Eile gewesen. Das entschuldigte es nicht, doch es war nachvollziehbar. Auch sagte mir hinterher einer der Beamten, sie hätten Snape nicht mitgenommen, weil sie befürchteten, er würde unseren Schulleiter noch auf dem Sterbebett verfluchen. Das hingegen konnte ich mir nicht vorstellen. Nicht, nachdem ich seinen Schrei gehört hatte. Niemand konnte solchen Schmerz vortäuschen. In diesem Moment hatte ich gewusst, dass er wirklich Dumbledores Freund gewesen war. Ich hatte Professor Snape nie gemocht, und er mich auch nicht. Ich gebe zu, ich habe ihn auch oft verdächtigt, obwohl er mich immer wieder beschämte durch die Erkenntnis, dass er mir nicht geschadet, sondern geholfen hatte. Mir sogar einmal das Leben gerettet. Ich hatte ihm dennoch immer wieder schlimme Dinge unterstellt, so wie jeder das tat. Aber in diesem Moment war ich mir sicher, dass er nichts Böses getan hatte. Ganz bestimmt nicht seinem einzigen Freund, Albus Dumbledore. Die anderen sahen das wohl nicht so. Aber warum sie ihm auch für die Beerdigung nicht einen kurzen Hafturlaub unter ihrer Aufsicht gewähren konnten, habe ich nicht verstanden. Fürchteten sie denn, er könnte noch den Toten verfluchen? Oder fliehen, inmitten so vieler Menschen? Vermutlich war es nur eine Frage der Bürokratie. Alles musste seine Ordnung haben, und wer in Untersuchungshaft saß, der saß da, und die Einhaltung der Paragraphen war ein höheres Gut als die Menschlichkeit. Ich fürchte ohnehin, wir haben zuviel von der Menschlichkeit mit Albus Dumbledore begraben.
Nach dem Begräbnis kehrte allmählich Ruhe ein. Endlich hatte man Zeit für eine umfassende Untersuchung des Falles Snape. Er selbst sagte gar nichts mehr. Ich habe ihn nach diesem Schrei nie wieder einen Laut von sich geben hören. Ich werde nie wissen, ob er nicht mehr reden wollte, oder ob er es nicht mehr konnte. Es soll traumatische Erlebnisse geben, die einem Menschen im wahrsten Sinne des Wortes die Sprache verschlagen. Aber nachdem sie genug Zeugen ausführlich befragt und das Puzzle der Aussagen zusammengesetzt hatten, fanden sie zu ihrem großen Erstaunen heraus, dass Professor Snape nicht nur vollkommen unschuldig war, sondern sogar den entscheidenden Beitrag zu unser aller Rettung erbracht hatte.
Sie haben ihn dann unverzüglich in die Freiheit entlassen. Sich mit leeren Worten entschuldigt und ihm zum Dank einen Orden umgehängt, ein Stück hohles Blech. Und somit fühlten sie sich reingewaschen von jeglicher Schuld und vergaßen das Ganze.
Mir blieb es vorbehalten, ihn zu finden. Als ich früh an jenem Morgen hinausging, um endlich allein und in Ruhe am Grab unseres lieben Professor Dumbledore verweilen zu können, blieb ich erstaunt stehen. Ich besah mir das Grab von weitem, bevor ich näher trat. Irgendetwas stimmte nicht. Zwar war die Sonne noch nicht richtig aufgegangen, und es war dämmrig und neblig, aber dennoch sah das Grab zu dunkel aus. Hatten nicht Berge von bunten Blumen die schwarze Erde bedeckt? Ich schritt langsam weiter und sah, dass eine schwarze Decke über das Grab gebreitet lag. Und als ich noch näher kam, erkannte ich, dass es ein schwarzer Umhang war und dass ein paar Stückchen von einem Menschen daraus hervorragten: eine Hand, zwei Füße und ein paar schwarze Haarbüschel. Als ich den Körper berührte, war er ganz kalt. "Professor Snape", flüsterte ich, "Sie müssen aufstehen! Sie sind ja schon völlig unterkühlt!" Er reagierte nicht. Ich griff nach seiner Hand und bemerkte, dass seine langen, dünnen Finger eine kleine Phiole umklammert hielten. Sie war leer. Ich konnte sie seinem Griff nicht entwinden, denn seine Finger waren weiß und starr wie Marmor. Da wusste ich, dass er schon seit vielen Stunden hier lag. Irgendwann in der Nacht musste er es getan haben. Hier, bei seinem Freund, Albus Dumbledore.
Sie haben ihn direkt neben Professor Dumbledore begraben. Eine letzte Gnade. Die einzige, die sie ihm je erwiesen haben. Reichlich spät. Es war eine sehr kleine Feier, die da so kurz nach dem riesigen Prunkbegräbnis unseres Direktors stattfand. Viele waren wohl nach wie vor nicht interessiert. Manche hielt vielleicht auch das schlechte Gewissen fern. Ich jedenfalls hatte eines, aber ich war da. Zusammen mit Professor McGonagall und ein paar anderen Lehrern und sehr wenigen Schülern. Wir nahmen Abschied von ihm, bekamen wie selbstverständlich dieses traurige, aber wichtige letzte Recht, das ihm verweigert geblieben war.
Ich bin seit damals nicht mehr derselbe. Und man nimmt es mir übel. Die Zaubererwelt will ihren strahlenden Helden Harry Potter wiederhaben. Und sie hassen den, der ihn ihnen vorenthält: mich. Ich habe seitdem nicht mehr gelacht und, lassen Sie mich überlegen, vielleicht nicht einmal gelächelt. Viele schaudern, wenn sie mich ansehen. Groß bin ich geworden, lang und dünn. Meine Haare sind schwarz wie die Nacht, und meine Augen sind grün, aber sie wirken sehr dunkel. Hermine hat entsetzt hinein geblickt und geflüstert: "Mein Gott, Harry, sie sind ja wie tiefe Löcher!" Ich rede nicht viel, und was ich sage, erschreckt sie, oder sie verstehen es nicht. Ich bin sehr einsam geworden. Niemand kann nachempfinden, was ich fühle. Mit wem also sollte ich reden? Sie werden ja nicht jeden Tag von diesen Schuldgefühlen erdrückt. Sie hören nicht jede Nacht diesen einen, erschütternden Schrei. Ja, ich bin einsam. Einsam wie Dumbledore es war, weil alle ihn vergötterten und niemand mit ihm umging wie mit einem Menschen. Einsam, wie Snape es war, weil er so düster und ihnen so fremd war, Furcht und Hass erregend.
Wie jeden Sommer, wenn Ferien sind und Hogwarts menschenleer ist, bin ich hierher gekommen. Wieder stehe ich an den beiden Gräbern. Sehen Sie, Professor Snape, dass ich eine weiße Blume auf Ihr Grab gelegt habe? Weiß wie die Unschuld. Ihr Grab liegt so friedlich im Sonnenschein, ebenso friedlich wie das daneben, das von unserem guten Professor Dumbledore. Der Fluch, welcher von Anfang bis Ende auf Ihrem armen Leben gelegen hat - er lastet nicht mehr auf Ihnen. Er ist auf mich übergegangen.
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