Snape ließ seinen Blick über die Klasse schweifen. "Können Sie meine Frage beantworten… Miss Sampson?" Sie konnte.
Es klingelte. Die Schüler räumte ihre Sachen ein und verließen schleunigst den Unterrichts-raum. Die vorhin als "Miss Sampson" Angesprochene drehte sich an der Tür noch einmal um.
"Ja?"
"Danke"
"Wofür?" Snape konnte seine Überraschung kaum verbergen.
"Dafür, dass Sie mich bemerkt haben."
Mit diesen Worten verließ das rätselhafte Geschöpf den Kerker und ließ einen irritierten Sna-pe zurück.
Beim Mittagessen fragte der Lehrer: "Was ist eigentlich mit dieser Nola Sampson?"
"Mit wem?", fragte Prof. McGonagall gleichgültig. Flitwick überlegte. "Ja, ich erinnere mich. In meinem Haus, 3. Klasse, nicht wahr?", piepste er.
"2. Klasse. Sie ist zwölf", korrigierte Snape stirnrunzelnd.
"Genau. Ziemlich unauffälliges Mädchen. Wieso interessiert sie dich?"
"Nur so", murmelte der Tränkemeister.
In den nächsten Wochen beobachtete er sie genauer. Nola Sampson war nicht groß und nicht klein, sehr dünn, fast mager, auch nicht hübsch. Kein Mädchen, nach dem sich irgendein Jun-ge umdrehen würde.
Genau das kam Snape seltsam vor: Niemand schien sie zu bemerken, geschweige denn zu beachten.
Schließlich musste er eine Antwort haben. Er hielt Nola zurück. "Setzen Sie sich", verlangte er. Sie setzte sich auf den Tisch und blickte ihn wartend an.
Plötzlich kam sich Snape dumm vor. Bevor er einen Rückzieher machen konnte, sprudelten die Worte aus seinem Mund: "Wieso sind Sie für die anderen unsichtbar?"
Nola antwortete nicht gleich. "Ich bin nicht unsichtbar. Ich bin durchsichtig. Sie sehen mich und sehen mich trotzdem nicht."
"Aber wie machen Sie das?"
"Gegenfrage: Wie machen Sie das?"
"Was meinen Sie?", fragte er scharf.
"Ich kann Sie auch sehen, wenn die anderen Sie nicht bemerken. Wir sind uns ähnlich."
Snape wusste darauf keine Antwort. Vielleicht hatte sie Recht. Noch nie hatte ihn jemand bemerkt, wenn er am Gang stand. Sie gingen an ihm vorbei und bemerkten ihn nicht, bis er ihnen Punkte abzog. Unvermittelt sprach das Mädchen weiter: "Ich könnte von ganz Ravenc-law die Zwillingsschwester sein. Ich weiß alles über sie. Sie merken ja nicht, dass ich da bin, wenn sie mit ihren Freunden und Freundinnen tuscheln. Geht es Ihnen ähnlich?"
"Nein, es… Ich bin nicht immer grau. Nur wenn ich es will. Oder mich in mich selbst zurück-ziehe." Er wusste nicht, warum er es ihr erzählte. Er spürte nur noch den Drang, es jemanden zu sagen, der etwas davon begriff.
"Grau? Wie passend. Grau, wie die Wände, mit denen wir verschmelzen können."
Snape lächelte. Das passierte fast nie, doch er freute sich. Sie konnte nachfühlen, was er damit sagen wollte.
Sie blieben nach jeder Tränkestunde noch im Kerker. Nicht lange, meistens nur eine halbe Stunde. Aber es reichte. Sie kannten es beide nicht, jemanden zu haben, der nur zuhörte - und verstand. Sie kannten es beide nicht, einen Freund zu haben.
"Erzähl mir von deinen Eltern", bat Snape. Sie redeten immer in einem ganz bestimmten Ton-fall miteinander. Es klang gleichgültig, aber das war es nicht. Sie redeten miteinander, als ob reden im Grunde überflüssig wäre, als würde sie es auch hören, wenn es der andere nur den-ken würde. "Mein Vater war ein Todesser. Einer von denen, die so gut wie nichts zu sagen hatten. Keine Ahnung ob er das hauptberuflich gemacht hat. Er wurde schon vor dem Fall des Lords von Auroren getötet. Meine Mutter hat einen Laden in der Nokturngasse. Wahrschein-lich verkauft sie nicht nur ihre Waren sondern auch sich selbst. Ist mir egal."
"Ich war auch mal ein Todesser."
"Ich weiß. Wieso sind Sie einer geworden?"
Eine seltsame Frage. War es nicht wichtiger, wieso er keiner mehr war? "Ich bin da einfach reingeraten. Meine Freunde waren welche, also wurde ich es auch."
"Freunde?" Nola lachte leise.
"Zumindest dachte ich, es wären welche. Mein Vater war endlich stolz auf mich. Zum ersten Mal in meinem Leben. Und Mutter war auch froh. Nicht weil ich Todesser wurde - sie wuss-te, das würde früher oder später meinen Tod bedeuten - sondern weil sie an diesem Tag keine Angst vor ihm haben musste. Er war zufrieden. Es gab keinen Grund, sie aus lauter Zorn zu schlagen."
"Ich verstehe."
"Warum wolltest du nicht wissen, wieso ich kein Todesser mehr bin?"
"Weil ich die Antwort kenne. Sie sind kein Todesser mehr, weil Sie erkannt haben, dass es falsch ist."
Snape war verblüfft. Es war eine so simple Antwort - und es war die richtige.
"Nola, wieso habe ich dich erst in diesem Jahr bemerkt?"
"Vielleicht warst du im letzten Jahr zu zurückgezogen in dich selbst. Vielleicht war die Zeit auch einfach nicht reif dafür."
"Ja. Du bist klug. Du hast immer eine Antwort auf meine Fragen."
"Ich habe viel Zeit zum Überlegen. Es ist nicht schwer, deine Gedanken zu erraten. Wir sind uns ähnlich." Irgendwann waren sie zum "Du" gewechselt. Freunde siezen sich nicht. Sie streichelte vorsichtig über seine Hand. Er zog sie nicht zurück.
"Meine Mutter ist gestorben."
"Wann?"
"Vor zwei Tagen. Mein Onkel ist jetzt mein Vormund."
"Ist er gut zu dir?"
"Er wusste nicht, dass seine Schwester eine Tochter hat."
"Ist er gut zu dir?"
Nola seufzte ganz leise. "Ich glaube nicht. Er wollte wissen, ob ich meine ZAGs schon habe, damit ich mit der Schule aufhören kann, weil er nicht so viel Schulgeld zahlen will."
"Und was hat er dazu gesagt, dass du die ZAGs erst in drei Jahren machst?"
"Er will mich nach diesem Jahr nach Durmstrang schicken. Damit ich in diesen drei Jahren noch etwas Vernünftiges lerne."
Severus öffnete die Tür zum Astronomieturm. "Nola?"
"Ja?" Sie drehte sich nicht um.
"Was machst du hier? Um diese Zeit?"
Sie stand ganz außen an der Brüstung. "Ich stehe hier jede Nacht. Ich war immer zu feige."
"Zum Springen?"
Zum ersten Mal war eine kleine Beunruhigung herauszuhören, als Nola nickte.
"Du warst? Wieso nicht mehr?"
"Jetzt bin ich nicht mehr einsam."
"Du wirst nicht springen?"
"Nein."
"Was machst du dann hier?"
"Ich sehe mir die Sterne an. Sie sind wunderschön." Sie fand seine Hand ohne sich umzudre-hen und zog ihn näher. "Findest du nicht auch?" Eine Weile betrachteten sie die Sterne. "In ein paar Monaten bin ich weg. Ich will nicht nach Durmstrang."
"Weg? Das klingt schrecklich."
"Ist es auch."
"Ich will, dass du immer bei mir bleibst."
"Das klingt wie ein Heiratsantrag, Severus." Sie lachte leise, aber er fühlte sich nicht ge-kränkt. Sie lachte ihn nicht aus. "Aber es ist so", beharrte er. "Eigentlich kommst du deinem Onkel viel zu teuer."
"Sehe ich auch so."
"Und in Durmstrang ist es noch teurer."
"Stimmt."
"Ich könnte ihm ein Geschäft vorschlagen."
"Was für eines?"
"Ich adoptiere dich."
"Und wenn er mich nicht hergeben will?"
"Dann besteche ich ihn."
"Meinst du das ernst?"
"Na klar."
Zum ersten Mal sah sie ihn in dieser Nacht an. Er konnte im Mondschein sehen, wie ihre Au-gen glitzerten. Zu seiner Überraschung weinte sie. "Du weinst?" Sie schluchzte auf und um-armte ihn stürmisch. Er erwiderte die Umarmung. Und zu seiner großen Erstaunen spürte er, wie auch ihm Tränen über das Gesicht rannen.
Epilog:
"Entschuldige bitte! Ich hab nicht aufgepasst." Der Junge hob Nolas Bücher auf und lächelte sie an, bevor er in der Menge verschwand. Verblüfft wandte sich das Mädchen ihrem Vater zu. "Hast du das gesehen? Er hat mich bemerkt!"
"Ja. Hast du es bei dir selbst gar nicht bemerkt?"
Sie schüttelte den Kopf. "Ist es bei mir etwa auch?"
"Aber ja. Du bist nicht mehr unsichtbar." Er hielt ihr einen kleinen Taschenspiegel vor das Gesicht. "Siehst du nicht das Leuchten in deinem Gesicht?"