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Autorin:Elena
Disclaimer:
"Alle bekannten Figuren in dieser Story gehören natürlich J.K. Rowling "
Sieben Tage im Herbst - Auf den Spuren der Vergangenheit
Ich bedanke mich herzlich bei Nightfan, die für mich Korrektur gelesen hat. Sie war mir eine große Hilfe.
Sollten noch immer Fehler im Text auftauchen, so gehen sie allein auf mein Konto. Ich bitte dafür um Entschuldigung.
Inhalt: Viele Jahre sind seit dem Ende des Krieges gegen Voldemort vergangen. Luna begibt sich bei der erneuten Suche nach dem Mörder ihres Vaters auf eine Reise in die Vergangenheit.
Ihre Fragen führen sie immer wieder zu einer Person zurück: Severus Snape, der seit fünfundzwanzig Jahren in Askaban inhaftiert ist.
Der 1. Tag
Luna
Sie war eine Reporterin, die ihren Beruf ernst nahm. Bevor sie eine Story veröffentlichte, recherchierte sie sehr genau. Sie befragte die betroffenen Personen, die Zeugen, las die Berichte von offizieller Seite und auch die inoffiziellen Notizen und sie ging immer zum Ort des Geschehens.
Unter ihrer gründlichen und sehr gewissenhaften Arbeit wandelte sich der Ruf des 'Klitterers' von einem Blatt für Spinner und Leichtgläubige zu einem sehr gefragten Nachrichtenmagazin. Die Auflage des 'Klitterers' überstieg schon seit Jahren die des 'Wochenpropheten'.
Luna Lovegood konnte Stolz auf ihre Arbeit sein - und sie war es auch.
Manchmal, wenn sie an ihren Vater dachte, tat es ihr leid, dass er diesen Triumph nicht hatte miterleben dürfen. Dann stiegen ihr Tränen in die Augen und ihre jetzt sehr strengen Züge wurden weich. Sie ließen noch ein wenig von der verträumten Luna durchschimmern, die sie einmal gewesen war.
Doch diese Luna mit den Radieschenanhängern an den Ohren und dem Zauberstab in den Haaren war in dem Moment gestorben, als Todesser ihren Vater ermordeten. Er hatte sich standhaft geweigert, den 'Klitterer' zu einem Sprachrohr der Todesser zu machen. Ihr Vater widerstand den Drohungen und Erpressungsversuchen und blieb seinen Idealen treu bis in den Tod.
Wie lange war das jetzt her?
Luna saß hinter ihrem Schreibtisch und starrte auf die glatte Oberfläche des polierten Holzes, dann auf den Bilderrahmen an der Seite. Dreißig Jahre? Mehr? Ihr Vater starb kurz nach Beginn des Krieges gegen Voldemort, ein Krieg, der Jahre dauerte. Wer ihren Vater auf dem Gewissen hatte, konnte nie geklärt werden.
Sie nahm das Bildnis ihres Vaters in die Hand und strich zärtlich über die Oberfläche. Das Porträt im Rahmen nieste daraufhin und schenkte seiner Tochter ein verschwörerisches Augenzwinkern. Luna lächelte tapfer zurück.
Die Frau mit den langen blonden Haaren zog ein Taschentuch hervor und schniefte hinein. "Ich konnte nie mit dem Finger auf deinen Mörder zeigen, Papa!", murmelte sie. "Wie bei so vielen anderen Opfer des Krieges hatte dein Mörder statt einem Gesicht nur eine Maske. Ich wünschte, ich würde endlich die Wahrheit kennen."
Es klopfte an der Tür und eine junge Hexe mit einem Stapel Briefe trat ein. "Mrs. Lovegood, die heutige Post."
"Danke Claire, legen Sie sie auf den Tisch. Ich kümmere mich darum."
Luna stellte das Bildnis wieder an seinen Platz zurück und schob die Erinnerungen an ihren Vater beiseite, sie hatte eine Zeitung zu führen.
Doch schon nach dem fünften Brief schweiften ihren Gedanken erneut ab.
Ihre Nachforschungen unmittelbar nach dem Krieg hatten zu keinem Ergebnis geführt. Es war unwahrscheinlich, dass es heute anders sein könnte - nach all den Jahren. Aber sie musste es noch einmal versuchen.
Sie musste einfach!
"Papa, du hättest auch nicht aufgegeben!", flüsterte sie.
Entschlossen stand Luna auf und schob die Briefe in die große Schublade ihres Tisches, dann trat sie an den Schrank, wo ihre Reporterausrüstung lag - ihre Glücksfeder und das zerschlissene, sich aber immer wieder erneuernde Notizbuch.
Die Erinnerungen hatten das alte Jagdfieber in ihr geweckt.
Und Luna hatte bereits genaue Vorstellungen davon, wie sie als Erstes vorgehen wollte.
"Claire", die Sekretärin schaute erstaunt auf, als ihre Chefin mit eiligen Schritten an ihr vorbei sauste, "melden Sie mich bitte beim Chef für Innere Sicherheit im Zaubereiministerium an. So viel ich weiß, gibt es einen Direktanschluss über den Kamin. Sagen Sie Mister Potter, dass ich in einer Stunde bei ihm bin. Und lassen Sie sich nicht abwimmeln." Mit diesen sehr eindringlichen Worten trat Luna in den Kamin, warf Flohpulver hinein und sagte "Nächster öffentlicher Anschluss nahe des Fuchsbaus der Weasleys!"
Rons Geschichte
Das krumme und schiefe Haus der Weasleys hatte über die Jahre nach dem Krieg, in dem es fast vollständig zerstört worden war, ein neues Aussehen bekommen, war aber noch genauso bunt und schrill wie eh und je. Hier lebte Ron mit seinen Brüdern in einer Art Junggesellengemeinschaft. Weder Fred noch George oder Charles hatten je geheiratet. Vor und während des Krieges fanden sie keine Zeit für Romanzen und danach zogen sie zusammen, um die schmerzlichen Verluste in ihrer Familie überhaupt ertragen zu können.
Vom Fuchsbau aus führten die Zwillinge ihre Geschäfte mit Scherzartikel erfolgreich weiter, vermochten sich jedoch an dem vielen Geld nicht so richtig zu erfreuen, da sie ihren Reichtum nicht mehr mit ihren Eltern und allen Geschwistern teilen konnten.
Luna war mit dem Flohnetzwerk bis zum nächsten öffentlichen Kamin gereist und von dort zum Fuchsbau appariert.
Die friedliche Landschaft ließ sie kurz inne halten. Als sie das letzte Mal hier verweilte, lagen ein Teil des Fuchsbaus und sämtliche umliegenden Gebäude in Schutt und Asche.
Der Krieg hatte alles verändert, dachte Luna, der Krieg und auch der Frieden. Wir haben unsere Toten begraben, um die Vermissten geweint und die Verwundeten geheilt. Das Leben geht weiter.
Ron hätte Luna fast nicht erkannt, wie sie da so modern gekleidet den Hang hinunter und auf den Fuchsbau zugekommen war. Als sie vor der Tür stand, öffnete er noch bevor sie klopfen konnte.
"Hallo Luna!", sagte er mit einem höflichen Lächeln im Gesicht. Er trat beiseite, um sie ins Haus zu lassen. "Es ist lange her!"
"Ja, ich weiß. Es ist schön dich zu sehen."
Während Luna ablegte und an den großen Familientisch in der Küche Platz nahm, hantierte Ron am Herd. Er setzte Wasser für Tee auf und holte Geschirr aus dem Regal.
Die ganze Zeit über schwiegen die beiden. Luna fand, dass Ron mit seinem gesunden Arm gut zurechtkam, während der andere schwer und nutzlos an der Seite herabhing. Der Fluch hatte ihn damals zum Glück nur gestreift, sonst wäre Ron wohl nicht mehr am Leben. Es war ihr ein Rätsel, warum ihr alter Schulfreund die Ärzte von St. Mungo nicht mehr weiter versuchen lassen wollte, die Fluchverletzung zu heilen.
"Wie geht es dir und deinen Brüdern?", fragte sie um das Schweigen zu brechen. Ron wirkte älter als er war und seine Haltung verriet seine Verbitterung und Unzufriedenheit mit dem Leben.
"Wir kommen prima zurecht, danke. Und du? Bist eine erfolgreiche Geschäftsfrau geworden." Dieser Feststellung fehlte jegliche Wertung.
"Ja, hätte keiner gedacht, oder?"
"Nein, aber schön, dass du etwas gefunden hast, was dir Spaß macht. Kommst du wegen der alten Zeiten willen, oder gibt es einen bestimmten Grund?" Ron stellte die Kanne und die Tassen auf den Tisch.
"Ich bin auf der Suche-"
"Sind wir das nicht alle?" Es klang abweisender als Ron wahrscheinlich beabsichtigt hatte. Verlegen nahm er die Kanne und wollte eingießen. "Tut mir Leid, Luna!"
"Das Schicksal hat es mit deiner Familie nicht gut gemeint, ich weiß."
"Auch du hattest einen Verlust zu beklagen." Geschickt schenkte Ron den Tee mit seinem gesunden Arm ein, ohne, dass ihm der Deckel von der Kanne fiel.
"Deswegen bin ich hier."
"Ich verstehe nicht." Die Kanne in der Hand begann zu zittern. Mit Mühe stellte Ron sie ab.
Für einige Augenblicke schaute Luna in den Tee, über dem sich eine kleine Dampfwolke kräuselte, als würde sie darin die Antwort finden. Dann sah sie auf. "Ich weiß bis heute nicht, wer meinen Vater getötet hat. Ich dachte, mit der Zeit würde das nicht mehr wichtig sein, aber es lässt mich nicht los. Nun habe ich mich entschlossen, noch einmal nachzuforschen."
"Ich sag es ja nicht gern, Luna, aber du bist schon damals gescheitert! Viele Jahre sind seither vergangen. Wen willst du jetzt noch fragen?"
"Was ich brauche sind Namen, Ron. Irgendjemand, der etwas wissen könnte. Du warst im Orden stärker integriert als ich. Du kennst bestimmt noch andere Mitglieder von denen ich nichts weiß. Es ist zwar nur ein verzweifelter Versuch, aber vielleicht ..."
Ron schüttelte den Kopf. "Die Namen der Ordensmitglieder sind nie vollständig bekannt gegeben worden. Es ist eine Sicherheitsfrage. Ich glaube nicht, dass sich daran etwas geändert hat."
"Eine Sicherheitsfrage?" Lunas Haltung wirkte plötzlich gestrafft und aufmerksam.
"Einige Mitglieder des Ordens konnten als Spione in die Reihen von Voldemort eingeschleust werden. Um ihre Tarnung nicht auffliegen zu lassen, mussten sie jedoch manchmal Dinge tun, die ... nun ja, sie haben sich damit keine Freunde gemacht, wenn du verstehst, was ich meine."
"Es hieß, Snape wäre auch ein Spion gewesen?"
Jetzt winkte Ron unwirsch ab. "Snape war ein Verräter, er hat für beide Seiten gearbeitet und am Ende Dumbledore getötet. Dass sie ihn erwischt haben, war nur gerecht."
"Was ist aus ihm geworden?"
"Er wurde verurteilt und nach Askaban gebracht. Hoffentlich ist er da verrottet!", schnaubte Ron.
Plötzlich schlug er mit der Hand auf den Tisch. Einen Moment hüpften die Tassen auf den Tellern. Luna schrak zusammen. "Wenn ich den damals nur vor meinen Zauberstab bekommen hätte. Nichts hat er getan, um meine Familie zu retten - der große Spion! NICHTS!"
Etwas ungelenk stand Ron auf, um neues Wasser aufzusetzen. Sein versteinerter Arm stieß dabei heftig gegen die Herdplatte, doch er schien es nicht zu bemerken. Luna folgte ihm mit den Blicken. Was war nur aus dem lebenslustigen und begeisterungsfähigen Jungen von einst geworden? Obwohl er erst auf die 50 zuging, wirkte er um vieles älter als er war.
"Ob er noch lebt?", fragte sie.
"Hoffentlich nur, um langsam zu krepieren. Ich weiß es nicht, da musst du Harry fragen."
"Ich habe mich bei ihm schon anmelden lassen, weil ich eine Besuchererlaubnis für Askaban haben wollte. Vielleicht bekomme ich von einigen Todessern etwas zu erfahren, die dort lebenslänglich sitzen."
"Dann kannst du selber sehen, ob dieser Bastard noch lebt."
"Du sagtest, dass es noch mehr gab, die nicht genannt wurden."
"Ich kann dir nicht helfen, Luna!"
"Bitte!"
Ron war zum Tisch zurückgekehrt. In seinem blassen Gesicht prangten noch immer unendliche Sommersprossen, aber das feuerrote Haar war durchwirkt von grauen Strähnen. Falten gaben seinem Mund ein verbittertes Aussehen und seine Augen wirkten müde.
Für Luna wurde es von Minute zu Minute schwerer, ihren alten Schulkameraden so leiden zu sehen. Erst der Überfall auf den Fuchsbau, dann der Tod von Ginny und Bill und die Ermordung der Eltern, Percys Verschwinden und am Ende noch diese Armverletzung. Wen hätten diese Schicksalsschläge nicht verändert?
"Nur einen Namen, Ron!", flehte Luna, "Bitte!"
Ron senkte resigniert den Kopf. "Ich weiß nur noch von einem mit Sicherheit, aber ich bezweifle, dass er dir helfen kann oder will. Er stieß erst später zu uns. Offen gestanden", jetzt drehte sich Ron endlich wieder zu ihr um, " haben wir ihm wohl nie wirklich getraut. Er war immer ein hinterhältiger Mistkerl und wird es wohl auch bleiben."
Luna wartete, dass Ron weiter sprach. Es musste ihm unendlich schwer fallen, darüber zu reden, denn plötzlich flammte so etwas wie Hass in Rons Augen auf.
"Malfoy - Draco Malfoy! Du solltest dir nicht zu viele Hoffnungen machen, dass er dir helfen wird. Wahrscheinlich weiß er ohnehin nichts."
Hatte Ron wirklich den Namen des Slytherins genannt? Ausgerechnet Malfoy? Kaum zu glauben, dass der ein Mitglied des Ordens gewesen sein sollte.
"Und wo finde ich ihn?"
Jetzt zuckte Ron nur die Schultern. Er hatte mehr gesagt als er sollte. Luna konnte spüren, dass ihr Schulfreund sich nicht weiter dazu äußern würde.
"Danke. Ich werde keinem sagen, woher ich den Namen habe." Sie schob ihre Tasse mit Tee, den sie noch nicht angerührt hatte, ein wenig zur Seite und stand auf. "Verlass dich darauf."
Wieder dieses Zucken mit der Schulter. "Was kann mir schon passieren?", fragte Ron leichthin. "Einem alten Krüppel, wie mir, wird man schon nichts tun."
"Oh Ron!", sie nahm ihn in die Arme und blinzelte unauffällig die Tränen weg. Als sie sich wieder trennten, versuchte sie zu lächeln.
"Ich besuche dich wieder!"
"Ja, das sagen alle, aber es ist schon o.k.!"
Der Leiter für Innere Sicherheit
Luna war vom Fuchsbau direkt nach London appariert und gleich mit dem ersten öffentlichen Kamin zum Ministerium weitergereist.
Beim Pförtner gab sie ihren Zauberstab ab und eilte anschließend in den Flügel, in dem die Abteilung der Auroren ihren Sitz hatte. Vor einer großen Flügeltür blieb sie stehen. Auf einem orange leuchtenden Schild stand der Name 'Harry Potter - Leiter für Innere Sicherheit'.
"Wer sind Sie und was kann ich für Sie tun?", fragte das Schild höflich.
"Mein Name ist Luna Lovegood. Ich möchte zu Mister Potter!"
"Haben Sie einen Termin, Mrs. Lovegood?"
"Nein, aber ich bin angemeldet worden."
"Ich muss Rücksprache halten! Bitte warten Sie!" Das Schild verstummte und für einige Augenblicke geschah nichts. Angehörige des Ministeriums eilten geschäftig an Luna vorbei, einige in Gespräche vertieft, andere beim Gehen in irgendwelchen Akten blätternd. Memos sausten über ihrem Kopf hin und her und ein Ordner schleppte sich kriechend über den Boden. Er war vollgestopft mit Papieren und Listen, die sich ausgerollt hatten. Die langen schmalen Papierschlangen zog er wie Tentakeln hinter sich her.
Eine junge Hexe mit grünem Umhang kam dem Ordner schimpfend entgegen. "Oh, dieser verdammte McCartney, wieso kann er die Unterlagen nicht selber vorbei bringen? Wieso schickt er dich allein los?" Die Frau hob den Ordner vom Boden auf und versuchte, die langen Listen wieder zusammenzurollen. "Warte nur, McCartney, wenn ich dich treffe - du kannst etwas erleben!"
Luna musste schmunzeln, hier ging es zu wie bei ihr in der Redaktion. Dann sah sie zurück auf das Schild. Sie fand, dass Harry sie viel zu lange warten ließ. Ungeduldig klopfte sie gegen das Schild.
"Bitte warten Sie!", ertönte das Schild emotionslos.
"Hey, für was hältst du mich?", protestierte Luna.
"Ähm, kann ich helfen?" Ein Mann stand hinter Luna. Er trug den orangen Umhang der Auroren. Seine kurzen Haare waren verstrubbelt wie eh und je, nur hatte er jetzt mehr als nur eine Narbe im Gesicht - die typischen Spuren nach einer langjährigen Tätigkeit als Auror.
Er wirkte durchtrainiert und absolut fit, stellte Luna fest, so ganz anders als Ron.
"Hallo Harry!"
"Oh, Luna, schön dich zu sehen!", sagte Harry freundlich. "Du wolltest schon vor einer viertel Stunde kommen."
"Tut mir leid, ich bin aufgehalten worden."
Der Leiter für Innere Sicherheit löste den Sperrzauber von der Tür und bat Luna in sein Büro. "Ich habe schon deiner Sekretärin gesagt, dass ich eigentlich keine Zeit habe."
"Ich weiß, deswegen fasse ich mich kurz. Ich möchte von dir eine Besuchserlaubnis für Askaban."
Harry hielt in der Bewegung inne, dann deutete er mit der Hand auf einen freien Stuhl. "Oh! - Ähm, ja, setz dich doch!"
Nachdenklich wanderte Harry um seinen großen Schreibtisch herum. Dabei zog er sich den Umhang von der Schulter und warf ihn achtlos über die Lehne seines Sessels. "Und in welcher Eigenschaft, Luna? Gibt es private Gründe oder möchtest du als Reporterin dort hin?"
"Privat."
Harry wartete, doch als keine Erklärung kam, sah er sie auffordernd an. "Du weißt, dass eine private Besuchserlaubnis nur an Familienangehörige ausgestellt wird, oder wenn es um laufende Verfahren geht."
"Ich würde nicht bei dir angeklopft haben, wenn ich diese Anordnung nicht kennen würde, es ist aber so, dass ich ..." Luna zögerte bevor sie ihrem Schulfreund ihre Beweggründe darlegte.
"Ich will mit den dort inhaftierten Todessern reden. Vielleicht ist heute jemand bereit mir zu verraten, wer meinen Vater getötet hat. Vor allem möchte ich mit Snape sprechen. Er weiß bestimmt etwas."
"Warum sollten sie dir heute etwas verraten, wenn sie es damals schon nicht getan haben? Und dann ausgerechnet dieser Giftmischer, dieser Verräter und Mörder!"
"Was weiß ich? Vielleicht, um einmal überhaupt mit jemandem zu reden, oder weil es ihnen jetzt völlig egal ist oder ... Keine Ahnung. Bitte Harry, lass es mich versuchen."
"Vorschriften sind aus bestimmten Gründen erlassen worden und nicht einfach dazu da, sie zu umgehen."
Jetzt funkelte Luna den Leiter der Inneren Sicherheit böse an. "Das hat dich aber früher auch nicht davon abgehalten über die Stränge zu schlagen. Um Vorschriften hast du dich doch nur selten geschert."
Harry lächelte nachsichtig. "Auch ich bin erwachsen geworden. Doch bevor du mir eine lange Predigt hältst, verrate mir, mit wem genau du sprechen willst."
"Eigentlich mit allen, denen ich habhaft werden kann. - Du würdest es an meiner Stelle auch versuchen wollen", hakte sie nach.
"Es ist nicht so, dass ich dich nicht verstehe, aber ... Lass mich darüber nachdenken, einverstanden? Ich werde dir nichts versprechen."
"Harry, ich möchte doch nur die Wahrheit erfahren."
"Die Wahrheit ist ein zweischneidiges Schwert. - Es sind fast dreißig Jahre vergangen. Vielleicht sollte man auch die Vergangenheit endlich ruhen lassen."
Mit einem etwas verständnislosen Blick sah Luna den Leiter der Sicherheitsabteilung an. Ihr geschulter Instinkt, sagte ihr, dass Harry nicht aufrichtig zu ihr war. Wollte er etwas vor ihr verbergen?
Ihr Blick schweifte durch den Raum. Sie sah die vollgestopften Aktenschränke, die Infotafeln an denen Memos festgepinnt flatterten, Steckbriefe und irgendwelche Listen mit Namen. Der Schreibtisch versank förmlich unter Aktenbergen. Zwei benutzte Tassen standen dazwischen und zerknitterte Schreibfedern waren zu Lesezeichen umfunktioniert worden. In einem anderen Regal surrten magische Geräte. Sogar ein Feindspiegel hing hinter dem Schreibtisch.
Ohne Zweifel war Harry ein vielbeschäftigter Abteilungsleiter mit einem gewissen Hang zum Chaos. Dass er die Büroarbeit nicht leiden mochte, war offensichtlich, aber Harry war schon immer ein Mann der Tat und nicht der Theorie gewesen.
"Weißt du", wandte sie sich wieder an ihren ehemaligen Schulfreund, "Es wäre wirklich schön, wenn du mir so eine Generalbesuchserlaubnis für Askaban geben könntest!"
Harry lachte gezwungen. "Eine generelle Besuchererlaubnis?"
"Ja, dann hättest du nur einmal Arbeit!", gab Luna beinahe liebenswürdig zurück.
"Im Grunde kann ich dir nicht mal EINE geben, weil du keinen Angehörigen dort hast!"
"Ist das das Problem?"
"Ja!" Harry hatte sich hinter seinen Schreibtisch gesetzt. Sein 'Ja' klang endgültig.
Mit einem unverbindlichen Lächeln stand Luna auf. "Dann will ich dich nicht länger aufhalten." Sie nahm ihren Umhang, aber sie ging noch nicht. Sie schien sich eines anderen zu besinnen. "Gerade kam mir der Gedanke, dass der 'Klitterer' schon lange nichts mehr über das Ministerium gebracht hat. Ich sollte den Zaubereiminister diesbezüglich einmal fragen ... Du weißt, die Leser des 'Klitterers' sind nicht zu unterschätzen - so wie die Macht der Presse insgesamt. Erinnerst du dich noch was geschah, als mein Vater als Einziger bereit war dir zu glauben und ein Interview mit dir machte?"
"Schon gut, ich habe verstanden!", unterbrach Harry gereizt Lunas Rede. "Ich sagte doch, ich werde darüber nachdenken."
"Dann kann ich dir morgen einen meiner Mitarbeiter schicken, um die Vollmacht abzuholen." Das war keine Frage, sondern ein Versprechen.
Luna nickte Harry zum Abschied zu.
"Ich habe die verträumte, naive Luna von früher lieber gemocht!", konnte sich Harry einen Kommentar nicht verkneifen.
Luna hatte fast die Tür erreicht und blieb noch einmal stehen. Ohne sich umzudrehen entgegnete sie: "Ja, ich mochte den jungen Harry auch viel lieber. Er war immer bereit gewesen, seinen Freunden zu helfen." Ihre Stimme klang traurig.
Das Gespräch im Ministerium hatte Luna sehr aufgewühlt. Sie konnte jetzt nicht einfach zurück ins Büro gehen und sich mit den redaktionellen Dingen beschäftigen.
Erst allmählich wurde ihr bewusst, dass sie von Harrys Reaktion im gleichen Maße erst überrascht und schließlich enttäuscht gewesen war.
Sie fragte sich, wie es wohl Hermine ging. Wahrscheinlich würde sie ihr auch nicht weiter helfen können, aber immerhin gehörte sie zum Orden und als Ron und Harrys beste Freundin wäre es doch möglich, dass sie etwas gehört hatte.
Leider wusste Luna nicht, wo Hermine jetzt wohnte und ob sie noch denselben Namen trug.
Ohne es zu bemerken hatten Lunas Schritte sie auf den Friedhof von London geführt, dort, wo die meisten Opfer der Schreckensherrschaft und des Krieges lagen.
Vor dem Grab ihres Vaters blieb sie schließlich stehen. Vorsichtig strich sie etwas Laub von der Grabplatte und seufzte leise. "Jetzt könnte ich deinen Rat gebrauchen, dein Gespür. Heute Morgen bin ich mit der fixen Idee aufgebrochen, nach deinem Mörder zu forschen. Und auf was bin ich bisher gestoßen? Auf eine Mauer von Schweigen und lapidaren Ausreden. Ich habe das Gefühl, da stimmt etwas nicht. Ich weiß, du würdest jetzt zu mir sagen, dass ich das Unsichtbare sehen soll. Ich soll hinter die Fassade schauen und dem Sichtbaren misstrauen."
Luna lächelte voller Wehmut. "Ich habe aber Angst davor, dass ich womöglich etwas finden könnte." Sie schaute zum Himmel hinauf, wo flauschige Herbstwolken gemächlich dahinzogen.
Wie friedlich die Welt jetzt war. Sie breitete die Arme aus und drehte sich um die eigene Achse wie sie es als Mädchen so gern getan hat.
Goldenes Herbstlaub wirbelt zu ihren Füßen auf.
Der 2. Tag
Fragen
Am nächsten Tag holte ein Mitarbeiter des 'Klitterers' die Besuchserlaubnis aus dem Ministerium ab. Sie war auf Lunas Namen ausgestellt und auf nur wenige Tage befristet. Ansonsten gab es keine Einschränkungen. Anbei befand sich weder ein offizielles Schreiben noch eine Notiz von Harry. Nach ihrer kleinen Bemerkung über die Macht der Presse hatte sie das auch nicht erwartet.
Bevor Luna jedoch Askaban einen Besuch abstatten wollte, ließ sie sich sämtliches Material aus dem Zeitungsarchiv bringen, in dem es um die Gerichtsverhandlungen und Verurteilungen von Todessern ging. Sie wollte nicht unvorbereitet den schlimmsten Verbrechern der Zaubererwelt gegenübertreten.
Gegen Mittag standen einige Namen auf einer Liste von verurteilten Todessern. Gut die Hälfte hatte Luna wieder durchgestrichen, da sie während der lebenslangen Haft gestorben waren.
Ganz oben auf der Liste stand ein Name mehrfach unterstrichen: Severus Snape - jener Mann, der einst ihr Lehrer in Zaubertränke war und später zu Albus Dumbledores Mörder wurde. Mit ihm würde sie sich gesondert beschäftigen müssen. Sie hoffte, dass er womöglich mehr wusste, galt er doch als die Rechte Hand Voldemorts. Außerdem war er einst Mitglied des Ordens gewesen. Aber dazu brauchte sie mehr und detailliertere Informationen. Die Akten selbst gaben nicht viel her.
Aufmerksam und gründlich arbeitete sie sich durch sie hindurch.
Danach saß Snape schon über fünfundzwanzig Jahre in Askaban. Die Auroren hatten ihn lange und unerbittlich gejagt. Auch die Mitglieder des Phönix-Ordens waren nicht untätig gewesen. Ihre bei Voldemort eingeschleusten Spione brachten schließlich die entscheidende Information mit, die zur Verhaftung von Dumbledores Mörder führte.
Auch der 'Klitterer' veröffentlichte damals einen entsprechenden Artikel. Es war einer ihrer ersten Berichte nach dem Tod ihres Vaters und, das musste sie sich heute eingestehen, nicht sehr objektiv.
Luna lehnte sich in ihrem Sessel zurück. Snape war noch in Askaban und musste jetzt bald 70 Jahre alt sein. Viele, so hieß es früher, würden mit der Zeit dort verrückt werden. Ob Snape dasselbe Schicksal ereilt hatte? Aber es gab keine Dementoren mehr in Askaban, die damals die Hauptursache für den geistigen Verfall und das Dahinsiechen verantwortlich waren. Heute bewachten speziell ausgebildete Auroren die Gefangenen.
Die Haftbedingungen waren in den letzten zehn Jahren humaner geworden, wie das Ministerium immer wieder betonte. Allerdings war die Mehrheit der Zauberergemeinschaft anfangs gegen diese Humanität gegenüber ihren Peinigern. Doch mit den Jahren verstummten die Stimmen und eine liberalere Einstellung fasste immer mehr Fuß. Es gab sogar die Möglichkeit eine lebenslange Haftstrafe in eine begrenzte umzuwandeln.
An dieser Stelle stutzte Luna. Sie schaute noch einmal die Notizen auf ihren Tisch durch und runzelte dann die Stirn. Wie kam es, dass nur so wenige Gefangene diese Möglichkeit genutzt hatten?
"Memo!", rief Luna. Ein Blatt löste sich von einem Block auf ihrem Schreibtisch und flatterte auf die Mitte des Tisches. "Termin mit dem Vorsitzenden des Begnadigungsausschusses des Zauberergamots vereinbaren. Nachfrage hinsichtlich des Begnadigungsgesetzes für Todesser", diktierte sie. "Unterschrift! Nachtrag: Starkey soll sich mit der Materie vertraut machen und mir eine Zusammenfassung bis morgen Nachmittag auf den Tisch legen."
Das Memo hatte ihre Worte in Druckbuchstaben aufgezeichnet und lag jetzt reglos vor ihr. Luna las es sich noch einmal durch, nickte bestätigend und schickte das Memo zu ihrer Sekretärin.
Sofort faltete sich das Blatt zu einem dreieckigen Flieger und sauste durch eine kleine Öffnung oberhalb der Tür davon.
Den ganzen restlichen Tag brütete Luna über den Unterlagen und unterbrach ihre Tätigkeit nur, um sich um die wichtigsten Belange der Zeitung zu kümmern. Am Abend endlich hatte sie auch die letzten Aufzeichnungen durchgesehen.
Je mehr sie sich informierte, umso merkwürdiger kamen ihr einige Dinge vor. Ein ganzer Fragenkatalog war zusammengekommen. Ein Teil der Fragen betraf Kleinigkeiten, aber es gab auch Grundsätzliches wie die kaum genutzte Möglichkeit einer Begnadigung oder die hohe Todesrate in den ersten Jahren nach dem Krieg.
Sie beschloss, am nächsten Tag Askaban zu besuchen.
Der 3. Tag
Askaban
Askaban - das berühmte wie auch berüchtigte Gefängnis der englischen Zaubererwelt - war weit draußen im Meer gelegen und besser bewacht als das Ministerium.
Gerüchte und schauerliche Geschichten rankten sich um diese finstere Festung, in der Jahrhunderte lang Dementoren als Wächter die schlimmsten Verbrecher der Zauberergemeinschaft bewacht hatten.
Dementoren waren die finstersten Geschöpfe, die man sich vorstellen konnte. Berüchtigt war ihr Kuss, der dem Opfer den Verstand und die Seele raubte und nur eine leere menschliche Hülle zurück ließ. Ein solches Dahinvegetieren war schlimmer als der Tod. Es gab gefühllose und eiskalte Schwarzmagier, die jammernd zusammengebrochen waren, als man ihnen das Urteil verkündete: den Kuss eines Dementoren.
Während des ersten Krieges gegen Voldemort wurden viele abgeurteilte Todesser dazu verdammt, den Kuss zu empfangen. Kurz vor Ausbruch des zweiten Krieges gegen den fürchterlichen Schwarzmagier waren die Dementoren aus Askaban ausgebrochen und die Zauberer mussten eine andere Strafe für die schlimmsten der Verbrecher wählen. Die Todesstrafe wieder einzuführen verbot sich von selbst und so lautete die Höchststrafe: Lebenslang in Einzelhaft.
Luna hatte sich nie für Askaban interessiert. Für sie, und wahrscheinlich für viele andere Zauberer auch, war das Gefängnis zwar berüchtigt, aber genaueres wusste keiner.
Erreichen konnte man das Gefängnis nur mit einem speziellen Boot, denn aus Sicherheitsgründen umgab die Festung ein massiver Apparierschutz. Keiner durfte die Insel betreten, wenn er nicht angemeldet war und mit dem Gefängnisboot kam.
Die Überfahrt dauerte fast eine Stunde. Luna stand die ganze Zeit auf Deck. Was würde sie hier finden? Antworten oder noch mehr Fragen?
Sie tastete nach der Innentasche ihres Umhangs, wo sie die Umrisse ihres Zauberstabes und das dicke Papier ihrer Besuchserlaubnis spürte. Den Zauberstab musste sie in der Eingangshalle abgeben, hatte ihr der Bootsführer gesagt. Auch Taschen waren nicht erlaubt.
Zum Glück hatte Luna nicht viel bei sich. Ihren Notizblock und die magische Feder konnte sie in die Tasche ihres Kleides stecken.
An Bord des Bootes waren neben dem Bootsführer und ihr nur noch zwei Auroren und eine Frau, die lange und kummervolle Lebensjahre gebeugt hatten. Ihre halb blinden Augen waren so grau wie ihr Haar. Als Luna mit ihr an Bord ging, hatte sie die alte Hexe freundlich gegrüßt. Diese nickte nur stumm und setzte sich in eine Ecke des Passagierraumes als wollte sie keinem im Wege stehen. Der Anblick der gebrechlichen und offensichtlich auch nicht wohlhabenden Frau weckte Mitleid in Luna. Wahrscheinlich eine Mutter, die ihren Sohn besuchen wollte, oder eine zurückgelassene Gattin, die ihrem Mann noch immer die Treue hielt.
Luna wollte die alte Hexe nicht weiter in ihrem Kummer belästigen und hielt sich fern von ihr.
Obwohl das Herbstwetter weiterhin mild war, wehte eine frische Briese auf dem Meer und zerrte an ihrer Kleidung. Das lange blonde Haar löste sich aus dem Geflecht ihrer Frisur und flatterte wie ein helles Band im Wind.
Je mehr sich das Boot der Gefängnisinsel näherte, umso trüber schien das Wetter zu werden. Graue Wolken ballten sich am Horizont zusammen und Nebelfetzen kreuzten ihren Weg, noch bevor sie den düsteren Schatten von Askaban sehen konnte.
Der Nebel wurde dichter, wallte um die Insel und hüllte sie fast vollständig ein. Nur die höchsten Spitzen der beiden mächtigen Türme ragten noch daraus hervor. Über ihnen fauchte ein scharfer Wind, der schwarze Wolken vor sich her trieb. Das Meer hatte sein Blau verloren und wirkte grau und schwarz wie Nebel und Wolken. Schaum tanzte auf den hohen Wellen, die das kleine Boot wie einen Spielball hin und her warfen.
Luna musste sich an der Reling festhalten, um nicht zu stürzen oder gar über Bord zu gehen. Mit weit aufgerissenen Augen bestaunte sie das Schauspiel der Naturgewalten.
"Bei den Elementen", rief sie aus, "wer von dieser Insel fliehen will, ist entweder komplett verrückt oder maßlos verzweifelt." Jetzt, wo sie mit eigenen Augen die Magie des Ortes beobachten konnte, verstand sie erst warum keiner glaubte, dass eine Flucht aus Askaban möglich war. Und dennoch hatte es einer geschafft - nur einer: Sirius Black.
Ihre Hochachtung vor dieser Leistung stieg ins unermessliche. Harrys Patenonkel musste wahrlich ein großer Zauberer gewesen sein.
Als sich das Boot der Insel bis auf einhundert Meter genähert hatte, beruhigte sich die See ab dieser magischen Linie. Das Boot konnte ungefährdet in den befestigten Hafen einlaufen, der hinter der ersten Sicherheitsmauer lag.
Als Luna zum Heck zurückschaute, sah sie, wie sich ein schweres Gitter hinter dem Boot schloss, das bis tief unter Wasser reichte. Wahrscheinlich riegelte das Gitter den kleinen Hafen vollständig von der Außenwelt ab, mutmaßte sie.
Mit einem beklemmenden Gefühl stieg Luna aus und überreichte dem wartenden Auror ihre Besuchserlaubnis. Hinter ihr ging die alte Hexe von Bord und schlurfte zielstrebig dem Besuchereingang zu.
Luna sah ihr einen Moment nach, dann ließ sie sich von dem Auror in das Gebäude begleiten um die üblichen Formalitäten zu klären.
"Ich würde gern zuerst Profes ... - Mister Snape besuchen", sagte Luna freundlich.
"Snape?" Der Mann hinter dem Schreibtisch blätterte durch eine Mappe. "Tja, das ist zurzeit nicht möglich. Dem Alten geht es nicht gut, er braucht Ruhe. Aber wie wäre es mit einem anderen? Wie ich sehe, haben Sie eine Generalerlaubnis um Nachforschungen über den Tod Ihres Vaters zu betreiben. Sie suchen seinen Mörder?" Die Frage war nur rhetorisch und Luna verzichtete auf eine Antwort.
"Harrison kann Sie in den Flügel mit den Todessern bringen. Zu Ihrer Sicherheit wird er in Ihrer Nähe bleiben. Bei diesen Typen kann man nie sicher sein. Sie sind zwar schon recht alt und klapprig, aber einige von denen bleiben auch jetzt noch unberechenbar."
"Verstehe", entgegnete Luna unverbindlich.
Harrison, ein blasser junger Mann, nickte seiner Begleiterin zu und geleitete sie durch ein Labyrinth von Gängen und Treppen. Anfangs war alles sehr sauber und hell. Luna konnte ab und an einen Blick in Zellen werfen, die ganz und gar der liberalen Gesinnung der heutigen Zaubererwelt entsprachen.
Ein kleiner Innenhof mit Rabatten trennte den ersten Flügel von dem zweiten. Die helle, freundliche Atmosphäre verdüsterte sich. Sie waren in einen älteren Bereich gekommen und wieder ging es verwirrende Treppen und Flure entlang, bis sie einen weiteren Zwischenhof überquerten, der lediglich eine kleine Rasenfläche aufwies. Von den Rabatten gab es keine Spur mehr.
Der dritte Flügel war ein finsteres Gemäuer und schon Hunderte von Jahren alt. Er musste zu dem ursprünglichen und damit ältesten Komplex gehören.
Da war nichts mehr von der Helligkeit aus dem neuen Gebäude übrig geblieben. Geschwärzter Granit beherrschte das Bild von Außen, wie auch die Gänge innerhalb der Mauern. Magische Feuer flammten auf, wenn sie an ihnen vorbei kamen und erloschen danach sofort wieder.
Hier drinnen konnte man nichts von der milden Herbstluft draußen spüren. Die Gänge waren kalt und feucht. Auf den Treppen musste Luna aufpassen, dass sie nicht auf dem glitschigen Boden ausrutschte.
Luna hatte keinen blassen Schimmer wie lange sie bereits unterwegs war, als ihre Begleitung stehen blieb und auf eine Treppe deutete. "Die Zellen der Todesser befinden sich in den unteren Stockwerken, weit unter der Oberfläche. Es ist die sicherste Unterbringung, die wir haben."
Es war das erste Mal, dass ihre Begleitung gesprochen hatte. Luna schaute ihn ganz erstaunt an. "Sie sind ja doch nicht stumm!", versuchte sie zu scherzen.
Der Auror überging ihre Bemerkung einfach. "Ich gehe mit einer Fackel voraus."
Luna konnte es sich nicht verkneifen den Mann stumm nachzuäffen.
Die Treppe war steil und die schmalen Stufen ausgetreten. Um nicht zu fallen, tastete sich Luna mit einer Hand an der Wand entlang, während sie mit der anderen krampfhaft das Geländer umfasst hielt.
Je tiefer sie kamen, umso kälter wurde es. Ihr schmerzten bereits die Finger, die immer wieder die Wand berührten. Erleichtert atmete sie auf, als sie endlich ihr Ziel erreichten und sie die kalte Wand zur Stütze nicht mehr brauchte. Die klammen Hände steckte sie tief in ihre Umhangtasche. Noch eine Treppe länger und ihre Finger wären wahrscheinlich erfroren. "Ist das immer so kalt hier unten?", wollte sie wissen.
Keine Antwort.
Langsam begann sich Luna über den jungen Mann zu ärgern. Wenigstens den Anschein von Höflichkeit konnte er geben - immerhin war sie alt genug, um seine Mutter zu sein.
Mit dem Zauberstab berührte der Auror eine massive und schwere Holztür, die ihnen den Weg versperrte, und zog sie auf. Er deutete mit seiner Fackel in den breiten langen Gang. "Die meisten Zellen sind nicht mehr belegt. Sie müssen selber nachschauen. Die Namen der Inhaftierten stehen an den Türen. Wenn Sie mit einem von denen reden wollen, entriegeln sie die erste Tür aus Holz. Dahinter befindet sich eine Gittertür durch die Sie mit den Gefangenen sprechen können. In den Zellen ist genügend Licht, so dass Sie keine Probleme haben dürften, etwas zu erkennen. Wenn Sie den Gang entlang gehen, werden die magischen Fackeln sich selber entzünden. Sollten Sie Hilfe brauchen, dann rufen Sie einfach."
Den letzten Satz sprach er mit einer gewissen Geringschätzung aus. Kein Zweifel, sie war als Besucher nicht willkommen. Doch Luna war davon nicht sonderlich beeindruckt. Ihre Erfahrung als Reporterin ließ sie großzügig darüber hinweggehen. Wichtig war einzig und allein ihr Ziel.
"Danke!"
Hinter ihr schloss sich die Tür. Sie konnte den Auroren das große Sichtfenster öffnen sehen. "Ich warte hier!", sagte er überflüssigerweise.
Im Gang war es nicht ganz so kalt wie auf der Treppe, Luna fand es sogar recht warm, wahrscheinlich aber auch nur, weil sie so sehr gefroren hatte und sich nun wieder aufwärmte. In Wahrheit dürften es nicht mehr als 16 oder 17 Grad sein.
Die Luft roch abgestanden und verbraucht. Jeder Schritt weiter in den Gang sagte Luna auch, dass man es hier mit der Sauberkeit nicht so genau nahm. Der letzte Sauberwisch-Zauber dürfte schon Wochen zurückliegen. Sie ahnte, dass es in den Zellen wohl nicht besser aussehen dürfte.
Endlich war sie an der ersten Zellentür angekommen. Die Holztür war nur angelehnt und auch die Gittertür dahinter schien unverschlossen, dennoch zog sie sie ganz auf, um sicher zu gehen. An der Außentür stand der Name W. Macnair.
Die Zelle war nicht sehr groß und beinhaltete nur minimales Mobiliar. Da war eine Pritsche, eine an der Wand befestigte Tischplatte, die jetzt herunter hing, und eine nicht einmal einen Meter hohe Blende hinter der sich der Sanitärbereich befand.
Weiter nichts.
Luna runzelte die Stirn. Die Zelle war nicht mehr als drei mal zwei Meter groß. Durch eine Öffnung in der mehr als vier Meter hohen Decke drang ein scharfer Lichtstrahl herein, der den Raum in einen Bereich aus grellem Licht in der Mitte und Schatten am Rand teilte.
Wie konnte ein Mensch in diesem Loch nur jahrelang eine Einzelhaft überleben? Aber hatten sie es nicht verdient - diese Todesser, diese Zerstörer, diese Mörder?
Luna trat in den Flur hinaus. Auch die nächsten Zellentüren standen offen. Aufmerksam las sie jeden Namen: Einige kamen ihr bekannt vor und an andere erinnerte sie sich noch aus den Tagen der Schulzeit. Viele Namen blieben ihr jedoch fremd.
Gefangener Marcus Flint
Die sechste Tür war verschlossen. Hier musste also wirklich noch jemand drinnen leben. Das Herz klopfte schneller in Lunas Brust. Auf dem Schild stand M. Flint. Flint? War Flint zu ihrer Schulzeit nicht der Mannschaftskapitän des Quidditchteams der Slytherins gewesen?
Luna hatte einige Mühe, den großen Riegel der schweren Holztür zurückzuziehen. Erst als sie mit beiden Händen zupackte, gab der Riegel nach und rutsche beiseite. Die Tür sprang auf und Luna brauchte sie nur noch vollständig öffnen. Es ging ganz leicht.
Durch das Gitter der zweiten Tür sah sie eine Gestalt auf der Liege hocken, die sich jetzt mühevoll aufrichtete und in den Lichtstrahl trat. "Gefangener Flint", hörte Luna eine raue und brüchige Stimme kaum vernehmbar.
Der Mann mit verwahrloster Frisur und verfilzten Bart blinzelte stark in dem grellen Licht. Er schwankte leicht, als würde es ihm schwerfallen derart aufrecht zu stehen wie es die Gefängnisordnung offensichtlich von ihm verlangte.
"Guten Tag, Mister Flint", erwiderte Luna endlich, nachdem sie sich von ihrem ersten Schreck erholt hatte. Vor ihr stand ein Mann mit schmutzigen Händen, faulen Zähnen und einem fürchterlichen Körpergeruch. Essenreste klebten ihm noch im Bart, der ihm bis zur Brust reichte. Die Häftlingskleidung war ausgeblichen und verschlissen was den verwahrlosten Eindruck nur verstärkte.
"Nur Flint, Ma'am!"
"Ich bin Luna Lovegood und Reporterin. Sagt Ihnen mein Name etwas? Wissen Sie wer ich bin, Mister Flint?"
"Nein, Ma'am und bitte nur Flint."
"Ich würde mich gerne mit Ihnen unterhalten Mi... Flint. Ich hoffe, dass Sie mir vielleicht Fragen beantworten können."
"Ich bin bereit alle Fragen nach meinem Wissen zu beantworten, Ma'am!"
"Ich bin auf der Suche nach dem Mörder meines Vaters. Er wurde von Todessern umgebracht. Mein Vater war der Redakteur und Herausgeber des 'Klitterers'. Erinnern Sie sich an die Zeitung?"
Flints Augen huschten hin und her, während sein Körper weiterhin leicht schwankte. Er dachte angestrengt nach. "Nein, Ma'am. Wir bekommen keine Zeitung hier."
"Voldemort", sagte Luna, Flint zuckte unmerklich zusammen. Seine leblosen Augen leuchteten einen kurzen Moment auf, dann erloschen sie wieder.
"Voldemort", wiederholte Luna nachdrücklich den verhassten Namen, "wollte die Zeitung als Sprachrohr für seine Zwecke missbrauchen. Mein Vater hatte sich geweigert. Er wurde bedroht und erpresst. Es gab mysteriöse Unfälle, aber mein Vater blieb unbeeindruckt. An einem Abend, als er das Verlagsgebäude verlassen wollte, haben ihm Todesser aufgelauert." Es fiel Luna schwer, über diesen Abend zu sprechen. Sie hatte gedacht, sie hätte es hinter sich gelassen, aber jetzt brachen die vernarbten Wunden wieder auf. "Er wurde verschleppt. Zeugen haben gesehen, wie Todesser mit ihm apparierten. Was dann geschah weiß keiner. Am nächsten Morgen fand man seinen misshandelten Körper direkt vor dem Eingang des 'Klitterers'. - Er war tot."
Luna bemerkte nicht, wie sie sich langsam in Rage redete. Wut stieg in ihr auf und auch Hass. "Ich will wissen, wer ihn ermordet hat! Wer hat ihn so furchtbar gequält? WER?"
Sie rüttelte in ohnmächtigem Zorn an den Gittern.
Der Gefangene sah sie nur an.
"ANTWORTE!"
"Es waren viele, die wir entführten und verhörten. Ich kann mich nicht mehr erinnern, Ma'am."
"So viele?"
"Ich war leider nicht überall dabei!"
"Leider?"
"Es war eine Ehre dem Lord zu dienen!"
"Du Unhold! Du hast verdient, was du bekommen hast!"
"Ja, Ma'am!" Flint war in sein übliches Antwortmuster zurückgefallen.
Luna griff bereits nach der Außentür um sie zuzuschlagen, als sie sich besann. Ihre Emotionen hatten ihre Professionalität verdrängt. Sie ermahnte sich zur Ruhe und Einsicht. "Weißt du, wer sonst in Frage käme oder etwas wissen könnte? Wer hat die Überfälle und Entführungen koordiniert?"
"Immer jemand aus dem Inneren Kreis. Immer einer seiner auserwählten Anhänger, Ma'am!"
"Namen?"
"Die kannten nur wenige. Ma'am."
"Und du weißt keinen? Nicht einen?"
"Nur den einen, der als Verräter starb."
"Wer?"
"Malfoy!", es kam wieder mehr Leben in die Augen von Flint. Der Vorfall hatte sich offensichtlich tiefer in sein Gedächtnis eingeprägt als andere.
"Draco Malfoy?"
"Nein!", der Mann hinter dem Gitter lachte freudlos, "Lucius Malfoy, dieser Schandfleck der Zauberwelt! Der Lord hat ihn sich erst eine Weile zu seiner Zerstreuung gehalten, bevor der Verräter getötet wurde. Was für ein Spaß war das! - Ma'am!"
Dieses Mal ließ sich Luna nicht mehr hinreißen. Sie konnte die Einstellung des Mannes nicht verstehen - nicht nach all den Jahren der Gefangenschaft. Wieso beharrte er noch immer auf seine Ansichten? Sie erinnerte sich an eine Bemerkung, die sie irgendwo in den Akten der Zauberergamots gelesen hatte: 'Die meisten Todesser sind unverbesserliche Fanatiker, völlig außerstande Mitleid zu empfinden.' So musste es wohl sein.
"Was ist mit Snape?"
"Ah, der Professor! Er, der den Alten vom Schloss zur Strecke gebracht hat!" Wieder leuchteten die Augen des Gefangenen auf und seine Stimme verriet ein Hauch von Bewunderung. "Der war etwas ganz Besonderes. Wurde unentbehrlich für den Dunklen Lord. Sie hätten den Professor nie erwischt, dazu war er zu clever, aber man hat ihn verraten und in eine Falle gelockt. Bei Merlin, wäre er noch da gewesen, hätten wir den Krieg nicht verloren."
Luna wandte den Blick von dem Todesser. Sie konnte ihn kaum noch ertragen ohne ihn anschreien zu wollen. Der Mann redete von Snape wie von einem Heiligen. Wie konnte er nur! Wie konnte er den Mörder von Albus Dumbledore so verherrlichen?
"Snape war die Rechte Hand von Voldemort?"
"Sprich ja nicht den Namen des Lords aus, du kleine Hexe!" Flint ballte die Fäuste. Im Verlauf des Gespräches war er immer weiter aus seiner Lethargie erwacht. Er schüttelte die Trägheit ab und auch die Erinnerungen schienen zurückzukommen. Der Gefangene wankte auch nicht mehr hin und her.
"Du bist dessen nicht würdig! - Blutsverräterin. Du und deine verfluchten Freunde und das Narbengesicht - ihr hättet alle vor ihm im Staub kriechen sollen."
"Ist Snape vor ihm auch gekrochen?"
"Das brauchte er nicht, denn der Meister wusste sehr wohl um dessen Wert." Flint griff sich mit den Händen an den Kopf und raufte sich das Haar. "Oh weh, dass sie ihm so übel mitspielen konnten!"
"Wer hat ihn gefangen?", rief Luna nun aufgeregt.
"Verschwinde, Blutverräterin, du erfährst nichts mehr von mir! - NICHTS!", schrie Flint und begann wieder zu wanken. Er trat aus dem Lichtstrahl heraus und verschmolz mit dem Dämmerlicht seiner Zelle.
Da war wohl nichts mehr zu machen. Angewidert von Flint schloss Luna die hölzerne Tür.
Eine ganze Weile blieb sie im Gang stehen und kämpfte ihre Emotionen nieder. Hass war in ihr aufgeflammt wie ein Ungeheuer. Sie durfte sich nicht davon überwältigen lassen. Nicht jetzt. Nicht hier.
Als Luna sich ihrer wieder sicher war, ging sie weiter den Gang entlang zu der nächsten verschlossenen Tür. Sie wusste, dass der Auror am Ausgang am Sichtfenster stand und sie beobachtete.
Gefangene Catherine Leeds
Auf dem Schild stand C. Leeds.
Leeds war eine Ravenclaw gewesen und schon längst aus der Schule heraus als Luna ihren Abschluss machen konnte. Sie kannte nur Bilder von ihr und wusste nicht, was sie jetzt erwarten würde. Wahrscheinlich, vermutete Luna, würde sie eine ähnlich verwahrloste Kreatur zu Gesicht bekommen.
Sie entriegelte die Tür und zog sie auf.
Wie Flint zuvor, stand die Gefangene sofort auf und trat in den gleißenden Lichtkegel. Luna zeigte sich überrascht, denn Leeds war alles andere als verwahrlost. Sie trug zwar, ähnlich wie Flint, verschlissene Gefängniskleidung, doch ihr Haar war ordentlich gekämmt, ihre Hände sauber. Auch blickte die Todesserin ihre Besucherin mit klaren, taxierenden Augen an.
"Gefangene Leeds!", meldete sich die Frau.
Luna bemerkte, dass die Stimme dieser Frau nicht brüchig war und auch der unterwürfige Ton fehlte. Offensichtlich ließ sie sich nicht so gehen wie Flint - oder es gab einen anderen Grund für ihre gute Verfassung.
"Ich bin Luna Lovegood!", stellte sich Luna wieder vor und erklärte, warum sie gekommen war. "Können Sie mir etwas über den Tod meines Vaters sagen?"
Leeds stand in dem Lichtkegel und senkte unmerklich den Kopf, gerade so viel, das ihre Augen beschattet wurde. "Ich weiß nicht, Ma'am!", erwiderte sie vorsichtig. "Angenommen ich wüsste etwas", fuhr sie fort, "was könnte Ihnen diese Information wert sein?"
Den etwas fragenden Blick von Luna konnte Leeds nicht entgangen sein. "Es gibt nicht viele Annehmlichkeiten hier. - Ma'am!", erläuterte sie.
"Ich bin nicht in der Position Versprechungen zu machen."
Für einen Moment verzog sich das Gesicht der Frau in der Zelle, dann setzte sie wieder eine neutrale Miene auf. "Ein wenig Fürsprache beim Gefängnisdirektor wäre schon etwas hilfreich."
"Und an was dachten Sie?"
"Vielleicht die Wochenausgabe des 'Klitteres'?", schmeichelte Leeds.
Luna widerstrebte es irgendeine Zusage zu machen, versprach jedoch, in dieser Sache den Direktor anzusprechen. "Doch ich will mich zunächst davon überzeugen, ob Ihre Information die Sache wert ist. - Also, was wissen Sie über den Tod meines Vaters?"
"Über seinen Tod weiß ich nichts ..."
Lunas Gesicht verfinsterte sich, doch bevor sie die Tür zuschlagen konnte fuhr Leeds eilig fort "... aber Snape muss es wissen - wenn er noch lebt. Er hat alle Pläne des Lords koordiniert, hat die Gruppen zusammengestellt, die Aufträge verteilt und auch einen Großteil der Verhöre durchgeführt. Wenn jemand etwas weiß, dann ist es die Rechte Hand des Lords."
Luna starrte mit undurchdringlicher Miene zu der Frau. Es war erstaunlich, wie gering der Zusammenhalt der Todesser untereinander war. Leeds verriet einen Mitstreiter wegen eines Wochenmagazins. Da war ihr die Haltung von Flint schon fast angenehmer.
Die Frau in der Zelle interpretierte Lunas Reaktion falsch. "Es ist wahr", betonte sie und beugte sich etwas vor, doch nicht weit genug, um aus dem Lichtkegel zu geraten. "Ich lüge nicht!" Jetzt waren ihre Augen wieder zu erkennen. Sie strahlten berechnende Kälte aus.
Für Luna war es unerträglich noch länger mit Leeds zu sprechen. Sie schloss die Außentür.
"Sie sprechen doch mit dem Direktor, Ma'am?" hörte sie noch die gedämpfte Stimme aus der Zelle.
Luna nickte. "Ich werde es versuchen!" Nachdenklich verriegelte sie die Tür und blieb dann allein auf dem Flur zurück. Fröstelnd zog sie ihren Umhang enger um die Schulter. Die Kälte, die sie umgab, kam nicht allein von den niedrigen Temperaturen hier unten.
Für einen Moment überlegte sie, ob sie weiter gehen sollte, oder zurückkehren. Die beiden Gespräche brachten nicht das erhoffte Ergebnis. Natürlich war ein Erfolg von Anfang an fraglich gewesen, aber aufgeben wollte sie nicht. Durfte sie nicht.
Einer Spur konnte sie immerhin nachgehen: Snape. Jeder verwies auf ihn, den Königsmörder. Sie sollte nicht noch mehr Zeit verschwenden, indem sie andere Todesser befragte.
Natürlich war sie nicht mehr das naive, verträumte Mädchen von einst. Sie wusste, dass sie nicht alles Gesagte unbesehen glauben konnte, doch andererseits hatten die Gefangenen wohl kaum noch etwas zu verlieren. Und in einem waren sie sich und das Ministerium einig: ihr ehemaliger Professor war die Rechte Hand Voldemorts gewesen, hatte sich unzähliger Verbrechen schuldig gemacht und er konnte erst mit Hilfe von Spionen gefasst werden.
Luna atmete tief durch. Also Snape.
Dessen Befragung dürfte nicht einfach werden. Wenn er auch nach der jahrelangen Haft vielleicht geistig nicht mehr auf der Höhe war, so wollte sie ihn auf keinen Fall unterschätzen. Snape war Snape und er war ein großer Slytherin gewesen.
Luna sah zur Eingangstür. Ihr Begleiter stand geduldig dahinter und warf ihr einen nichtssagenden Blick zu.
Stan Shunpikes Geschichte
Sie drehte sich zur nächsten Tür um und las weitere Namen von ehemaligen Insassen. Die Zellen waren allesamt nicht mehr verschlossen. Dann stand sie, wie von Donner gerührt, vor einer Tür deren Namensschild für sie unglaublich war: S. Shunpike.
In ihren Erinnerungen tauchte das Bild eines jungen Mannes auf - pickliges Gesicht, schwatzhaft und sehr fröhlich. Ein wenig einfältig vielleicht, aber ansonsten der harmloseste Zauberer, den man sich vorstellen konnte.
Stan Shunpike war Schaffner im 'Fahrenden Ritter' gewesen und wurde noch vor Ausbruch des Krieges verhaftet. Die Anschuldigung bezog sich auf Spionage für Voldemort. Luna erinnerte sich, wie sich der 'Klitterer' über die Willkür des Ministeriums ausgelassen hatte und Partei für Stan ergriff. Man habe, so der 'Klitterer', einen Sündenbock gesucht um fehlende Ergebnisse bei der Bekämpfung der Todesser wettzumachen.
Damals war sie noch in der Schule und die folgenden Ereignisse rückte Stans Schicksal aus dem Fokus der Aufmerksamkeit.
War Stan ein verurteilter Todesser? Sollte sich ihr Vater so sehr in seiner Einschätzung über diesen Mann geirrt haben? War ihr der Prozess diesbezüglich entgangen?
Entschlossen entriegelte Luna die schwere Tür und zog sie auf.
Wieder diese kleine hohe Zelle mit der spärlichen Möblierung. In der Mitte das grelle Licht. Luna musste erst einige Momente suchen, bis sie hinter dem Lichtkegel die Gestalt von Stan schemenhaft ausmachen konnte.
Er schien sie nicht richtig wahrzunehmen.
"Mister Shunpike?", fragte Luna. Sie hatte die Hände um die Gitterstäbe gelegt und war mit dem Gesicht ganz nahe herangekommen.
"Stan?", versuchte sie es noch einmal.
"Oh, ein neuer Fahrgast!", Stan sprang so plötzlich zur Tür vor, dass Luna instinktiv zurückwich. "Wohin darf es denn gehen?", fragte er. Stan hielt ihr die schmutzige Hand entgegen. "Das macht achtzehn Sickel!" Mit der anderen Hand griff er hinter sich ins Leere. "Sie müssen sich festhalten."
Langsam kam Luna wieder näher. Der Mann in der Zelle schien völlig verrückt geworden zu sein. Da er nun im Licht stand, machte sie immer mehr Einzelheiten aus. Seine Kleidung war unsauber und abgewetzt. Er hatte fast keine Haare mehr auf den Kopf und die Haut in seinem aschfahlen Gesicht war rau und rissig. Tiefe Falten zogen sich wie Furchen unter den Augen entlang. Die jahrelange Gefangenschaft hatte ihn welken lassen - mehr noch als Flint oder Leeds. Luna überschlug rasch die Jahre und kam zu der erschreckenden Erkenntnis, dass Stan fast sechzig Jahre alt sein musste. Für einen normalen Zauber war das kein betagtes Alter, aber Stan sah aus, als würde er weit über Hundert sein.
"Ich bin ..."
"Nächste Station ...", mitten im Satz brach Stan ab. Plötzlich wurde er sich seiner Umgebung wieder bewusst. Wie unter einem Schlag taumelte er leicht zurück und sackte zusammen. Langsam ließ er sich auf den Boden nieder, die Fäuste gegen die Schläfen pressend.
"Das ist ein Traum, ein böser Traum", wimmerte er leise vor sich hin. "Ich habe doch nichts getan. Ich bin doch nur ein Schaffner!"
Voller Mitleid sah Luna auf diese bedauernswerte Person.
Der Gefangene nahm die Arme wieder herunter und vergrub sie unter die Achseln. Wie in Trance starrte er vor sich hin.
"Sie hören mir nicht zu", flüsterte der Mann. "Sie sagen ich wäre ein Spion, aber ich bin doch nur ein Schaffner. Nur ein Schaffner!"
Es bedurfte mehrere Anläufe bis Luna erreichte, dass Stan wieder auf sie aufmerksam wurde. Der Mann stand mühevoll auf und stellte sich gehorsam in den Lichtkegel, die Arme kraftlos herunterhängend. "Gefangener Shunpike!", meldete er sich ordnungsgemäß.
"Setzen Sie sich doch!", schlug Luna vor.
"Das ist dem Gefangenen während eines Verhörs nicht gestattet, Ma'am!"
"Ich habe nicht vor Sie zu verhören. Ich möchte nur Auskünfte."
Hinsichtlich der Ermordung ihres Vaters versprach sich Luna nicht viel von dem Gespräch mit Stan Shunpike, aber das Schicksal des Busschaffners interessierte sie. Ihr war bewusst, dass sie dem armen Mann womöglich damit die Chance nahm, wenigstens in Gedanken aus dieser Zelle zu fliehen.
"Mein Vater wurde verschleppt und später getötet. Ich suche nach seinem Mörder. Es ist schon lange her und Sie hatte man zu der Zeit bereits verhaftet und eingesperrt. Erinnern Sie sich an meinen Vater, Stan? Er hatte Sie im Gefängnis im Ministerium oft besucht und einen Bericht im 'Klitterer' über Sie und das Unrecht, welches Ihnen angetan wurde, veröffentlicht. Leider hat es nicht viel geholfen."
Stan hörte immer aufmerksamer zu. Er wischte die Tränen mit dem Ärmel weg und schniefte in den fadenscheinigen Stoff.
"Ich erinnere mich", kam die Antwort. Sie war einfach und im klaren Ton gekommen. Nichts deutete mehr auf den schwelenden Wahnsinn hin. "Ihr Vater, Ma'am, war der Einzige, der an meine Unschuld geglaubt hat."
"Und das Zauberergamot?"
Dieses Mal schaute Stan die Frau auf der anderen Seite der Gitterstäbe an, als wäre sie verrückt. "Ich war auf keiner Gerichtsverhandlung. Ein Mann aus dem Ministerium legte eine Akte vor und beschuldigte mich der Verschwörung. Er erzählte von Dingen, die ich nicht verstand und dann befahl er, mich nach Askaban zu bringen."
Stan verstummte. Er begann wieder bedenklich zu schwanken. "Damals waren die Dementoren noch hier. Das war grauenvoll."
Tränen rannen stumm die faltigen Wangen hinab, als die Erinnerung Stan zu überwältigen drohte. Doch der ehemalige Schaffner des 'Fahrenden Ritters' driftete nicht wieder in den Wahnsinn ab. "Zum Glück", fuhr er fort, "verschwanden sie dann aus Askaban. Danach wurde es leichter für mich."
"Sie hatten keine ordentliche Gerichtsverhandlung?"
"Nein!", antwortete Stan schlicht. "Zuerst haben mich die Auroren verhört und dann kam dieser Mann aus dem Ministerium mit seiner Akte. Einen Tag später war ich auf dem Weg nach Askaban."
"Das ist ja unglaublich!", empörte sich Luna. Die Reporterin in ihr erhob die Stimme. "Soll das heißen, dass Sie seit über dreißig Jahren hier sitzen ohne wirklich verurteilt worden zu sein?"
"Dreißig Jahre?", fragte Stan ungläubig. Er sah an sich herab und dann zu seiner Besucherin. "Das waren nur dreißig Jahre? Mir kam es wie ein ganzes Leben vor."
"Eine sehr lange Zeit. - Warum haben Sie nicht verlangt vor das Zauberergamot gebracht zu werden?"
"Zauberergamot? Aber er hatte doch eine Akte über mich! Ich dachte, das wäre schon mein Urteil."
Offensichtlich war dem alten Mann nie in den Sinn gekommen, dass er Anspruch auf eine Verhandlung gehabt hätte.
"Wie hieß der Ministeriumsangehörige?", verlangte Luna zu wissen. Sie hatte die magische Feder und ihr Notizbuch herausgezogen und ließ Stan Shunpike Aussage mitschreiben.
"Ich weiß nicht so recht. - Waren es wirklich dreißig Jahre?" Er konnte über den Umstand noch immer nicht fertig werden.
"Erinnern Sie sich noch an den Namen? - Der Mann mit der Akte."
Stan schloss die Augen, um sich die Bilder von einst besser ins Gedächtnis rufen zu können. Plötzlich riss er die Augen auf. "Pankratius!", rief er voller Freude über seine Erkenntnis. "Der Mann hieß Pankratius."
Die magische Feder huschte kratzend über den Notizblock.
"Und die anderen, die Sie verhaftet haben?"
Da konnte Stan nicht weiterhelfen. Es waren Auroren - irgendwelche Männer und Frauen in orangefarbenen Umhängen. Auch wer die Verhöre und die Untersuchung geführt hatte, vermochte er nicht zu sagen. Es waren einfach keine Namen gefallen, während Pankratius sehr viel Wert darauf legte, entsprechend angesprochen zu werden.
Je mehr Luna über Stans Verhaftung und Verbringung nach Askaban erfuhr, umso empörter wurde sie. Ihr Vater hatte also Recht behalten. Hier saß ein Unschuldiger seit mehr als dreißig Jahren im Gefängnis.
"Mister Shunpike", begann sie.
"Nur Shunpike, Ma'am!", berichtigte Stan pflichtschuldig.
"Ich verspreche, dass ich beim Zauberergamot eine Anhörung für Sie beantragen werde. Sie hätten schon nach dem Begnadigungsgesetz vor einigen Jahren entlassen werden müssen. Warum hat sich keiner darum gekümmert? Doch Sie dürfen nicht verzagen, der 'Klitterer' wird sich für Ihre Rechte einsetzen."
Stans Reaktion darauf war so ganz anders als erwartet.
"Mir geht es doch noch ganz gut. Da haben es andere Leute schlimmer getroffen."
"Schlimmer?"
"Ja, heute lassen uns die Wachen in Ruhe, aber früher, da haben sie immer mal ihre Späßchen mit uns getrieben. Das ist aber schon lange her. Irgendwann hörten sie damit auf - nur bei einem nicht. Ihm haben sie das Leben jahrelang zur Hölle gemacht. Ich hätte nicht mit ihm tauschen wollen."
Luna fand es erstaunlich, dass jemand, dem so offensichtlich Unrecht getan worden war, noch Kraft genug hatte, das Schicksal anderer zu bedauern.
"Welche Jahreszeit haben wir jetzt da draußen?", fragte Stan unvermittelt.
"Es ist Herbst. Die Bäume tragen buntes Laub und die Sonne scheint. Es ist ein goldener Herbst."
"Herbst!", echote Stan mit verträumtem Blick. "In Wales ist es um diese Jahreszeit besonders schön. Der 'Fahrende Ritter' fuhr dann immer langsamer, damit alle die Farbenpracht genießen konnten."
Luna spürte, wie Stan zurück in seine Fluchtwelt driftete. Sie wollte ihn nicht verlieren und streckte unbewusst den Arm durch das Gitter, um nach ihm zu greifen. Aber Stan stand viel zu weit von ihr entfernt.
"Stan!", rief sie.
Doch er schaute sie nur aus verschleierten Augen an. "Sie können nicht einfach zusteigen ohne den Fahrpreis zu entrichten!", erklärte er mit eifriger Stimme. "Das macht 22 Sickel."
"Oh Stan!", seufzte Luna und ließ resigniert den Arm sinken. Sie wusste, dass sie im Moment nichts mehr für ihn tun konnte.
Traurig schloss sie die Außentür. Die Kälte setzte ihr nicht nur körperlich, sondern auch emotional zu. Mit bangen Blicken schaute sie den Flur hinunter. Da waren noch so viele Türen. Hinter einer von ihnen konnte sie die Antworten vielleicht finden, aber sie war heute nicht mehr in der Lage weiter zu machen.
Müde und deprimiert kehrte sie zum Ausgang zurück. Die Wache sah sie erwartungsvoll an.
"Erfolgreich gewesen?", fragte er mit einer Stimme, die in Wirklichkeit kein Interesse bekundete.
"Ich werde meine Befragung ein anderes Mal weiter führen", gab Luna zurück.
Keine private Angelegenheit mehr
Kaum zurück im Büro, rief Luna ihre besten Reporter zu sich. Ihr war auf dem Rückweg von Askaban bewusst geworden, dass es längst nicht mehr nur um ihre private Suche nach dem Mörder ihres Vaters ging. Zu unterschiedlich waren ihre Gespräche mit den drei Gefangenen verlaufen und zu viele unausgesprochene Fragen und unterschwellige Andeutungen waren geblieben. Besonders das Schicksal von Stan Shunpike berührte sie.
Ihr Gespür für eine Story, über Jahre geschärft, sagte ihr, dass sie etwas ganz Großem auf die Spur gekommen war. Sie wollte nicht gleich von einer Verschwörung sprechen, wie ihr Vater es ohne Zweifel getan hätte, aber dass hier etwas vertuscht wurde, war ganz offensichtlich. Und leider sagte ihre Erfahrung, dass Leute aus dem Ministerium damit zu tun hatten.
Leute wie Harry Potter?
Nein, dass fand selbst sie zu abwegig.
Zu Beginn der Redaktionskonferenz gab Luna ihren Mitarbeitern einen kurzen Bericht über ihren Besuch in Askaban. Dann legte sie eine neue Strategie fest.
"Starkey, ich will, dass du dich ausschließlich um Stan Shunpike kümmerst. Ich will wissen, warum es keine Gerichtsverhandlung gab, warum keiner sich für ihn eingesetzt hat, wieso nie ein Antrag auf Begnadigung gestellt wurde. Das hat absolute Priorität. Trag alles zusammen und gib mir dann eine Zusammenfassung. Wenn das Material reicht und Shunpike wirklich seit dreißig Jahren unschuldig in Askaban sitzt, besorgen wir ihm einen Anwalt. Der 'Klitterer' übernimmt die Kosten. Wir bringen das ganz groß raus. Diese Arbeit hat Priorität, verstanden?"
"Was ist mit der Sache aus dem Drachenreservat?"
"Bleibt liegen. - Bei Merlin, man stelle sich das vor ... auf Jahre unschuldig in Askaban. Das wäre nicht der erste Justizirrtum. Harry Potters Patenonkel, Sirius Black, war auch über zehn Jahre eingesperrt worden. Was, wenn da noch mehr Insassen sind, denen man die Freiheit zu Unrecht genommen hat?" Luna schüttelte den Kopf. Der Gedanke daran war erschreckend. Er machte ihr Angst, zeigte er ihr doch, wie fehlbar das System offensichtlich war.
Luna zwang sich, sich wieder auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren.
"Starkey, hast du die Zusammenfassung vom Begnadigungsgesetz?"
Der Mann nickte und schob das Blatt zu seiner Chefin hinüber. "Das Gesetz wurde im Jahr 2020 in Kraft gesetzt. Danach kann jeder verurteilte Todesser nach einer Haft von 15 Jahren einen Antrag auf Begnadigung stellen. Die Schwere der Schuld, das Verhalten während der Haft und die Einsichtsfähigkeit sind ausschlaggebend für eine Entscheidung. Zudem braucht jeder von ihnen einen Bürgen. Mit einem Alter von 65 Jahren und einer bereits verbüßten Strafe von 25 Jahren erfolgt der Antrag auf Begnadigung von Rechtswegen durch die Gefängnisleitung. - Soll aber nicht heißen, dass die Leute automatisch entlassen werden. Man kann jedoch davon ausgehen, dass die Maßstäbe nicht mehr so hoch liegen.
Es gingen in den folgenden zwei Jahren 21 Anträge ein, 14 wurden bestätigt, vier abgelehnt und drei wurden hinfällig, da die Antragsteller bis zum Ende des Verfahrens verstarben. Danach gab es nur noch drei weitere Begnadigungsverfahren mit ablehnendem Bescheid. Ein Verfahren ist noch nicht abgeschlossen. Die Altersregelung, wie ich sie mal nennen will, wurde nur einmal angewandt. - Offen gestanden", beendete der Mann seinen Bericht, "habe ich nichts dagegen, wenn diese Verbrecher in Askaban verrotten."
Luna kannte ihre Mitarbeiter sehr gut und wusste auch, dass viele von ihnen in den Kriegsjahren in ihren Familien Opfer zu beklagen hatten. Die Einstellung, die Starkey an den Tag legte, war deswegen nicht überraschend. Doch sie erwartete Professionalität von ihren Mitarbeitern.
"Schränkt deine persönliche Einstellung deine Arbeit ein?", fragte sie deswegen.
"Natürlich nicht!", jetzt lächelte Starkey wissend. "Ich wollte nur meine Meinung sagen!"
"Colin", wandte sich Luna dem Fotografen des 'Klitterers' zu, "du steigst bei Starkey unterstützend mit ein."
"Alles klar!"
Luna gab auch den anderen Mitgliedern ihres Teams konkrete Aufgaben.
Es klopfte an der Tür und Claire, die Sekretärin, steckte den Kopf herein. "Der Termin mit der Vorsitzenden des Begnadigungsausschusses ist in einer halben Stunde."
"Ja, danke", zu den Reportern gewandt beendete Luna die Versammlung. "Das wär's. An die Arbeit, Leute!"
Madam Sprouts Geschichte
Das Gespräch mit der viel zu jungen Vorsitzenden des Begnadigungsausschusses hatte nichts gebracht. Luna war wütend und frustriert zugleich.
Vom Ministerium aus nahm sie, nach kurzer Rücksprache mit ihrer Sekretärin, mit dem Flohnetzwerk eine Verbindung zur Winkelgasse. Sie beschloss kurzerhand, bei Madam Malkin im Geschäft vorbeizuschauen und ihre bestellten Sachen abzuholen. Die Ablenkung in der Winkelgasse würde ihr gut tun und sie wieder beruhigen.
Da es jedoch schon auf den Abend zuging, herrschte bereits viel Betrieb im Flohnetzwerk. Zahlreiche Mitarbeiter des Ministeriums reihten sich in der Schlange ein. Luna gesellte sich dazu.
Als Luna aus dem Kamin im 'Tropfenden Kessel' trat, wollte sie sofort zum Hinterhof weiter eilen. Sie wurde jedoch von einer alten Dame aufgehalten.
"Professor Sprout!" Mit freudiger Überraschung blieb Luna stehen. "Was für ein Zufall!", rief sie aus.
"Ich gestehe", antwortete die ehemalige Hauslehrerin von Hufflepuff, "dass ich dem Zufall ein wenig nachgeholfen habe. Ich wollte Sie unbedingt treffen."
Luna sah, wie schwer es der alten Dame fiel zu stehen und geleitete sie zu einem freien Tisch im Lokal. "Setzen wir uns doch!", sagte sie unverbindlich. "Möchten Sie etwas trinken?"
"Einen Kräutertee!" Professor Sprout hatte die Hundert bereits überschritten. Vielleicht mochte sie körperlich nicht mehr ganz auf der Höhe sein, aber in ihren Augen leuchtete noch immer ein wacher Verstand.
Die alte Hufflepuff kommentierte Lunas Blick mit einem schelmischen Lächeln. "Ja, ja, andere sehen in meinem Alter rüstiger aus, aber ich bin sonst noch gut beisammen." Mit diesen Worten bestätigte sie, was Luna sich bereits selber gedacht hatte. Luna schob Madam Sprout eine Tasse Tee hinüber und bezahlte die Bedienung.
"Wie kommt es, dass Sie wussten, dass ich hier her kommen wollte?"
"Ach Kind, wer so alt ist wie ich, der hört das Gras wachsen - wenn er nicht ganz taub geworden ist wie der alte Filch", winkte Sprout ab. "Aber ganz im Ernst, als ehemaliges Mitglied des Phönix-Ordens hat man auch heute noch seine Quellen."
Luna sagte nichts und rührte stattdessen in ihrem Tee.
"Man hat mich gebeten, mit Ihnen zu sprechen."
"Man?"
"Mitglieder des Ordens - ehemalige Mitglieder des Ordens, um genau zu sein. Sie wissen, dass der Orden nach dem Krieg aufgelöst worden ist?"
Die junge Frau schwieg und klingelte mit dem Löffel weiter im Tee herum.
"Sie waren in Askaban", führte Madam Sprout das etwas einseitige Gespräch fort. "Sie befragen die inhaftierten Todesser. Geht es da wirklich nur um die Suche nach dem Mörder Ihres Vaters, Mrs. Lovegood? Oder ist der 'Klitterer' auf eine Sensationsstory aus?"
"Gibt es denn eine Story über die der 'Klitterer' berichten sollte?", entgegnete Luna herausfordernd.
"Sie erkundigen sich nach Severus Snape!"
"Er galt als Rechte Hand von Voldemort. Wenn er es nicht weiß, wer dann?"
"Lassen Sie die Vergangenheit doch ruhen!" Madam Sprout hatte sich etwas vorgebeugt und betrachtete die junge Frau ihr gegenüber eindringlich. "Es bringt keinem etwas, alte Geschichten wieder aufzurollen und Staub aufzuwirbeln. Der Krieg ist vorbei, Merlin sei Dank! Rühren Sie nicht an alten Wunden."
"Ist das nicht merkwürdig?", entgegnete Luna, "Mir scheint, dass viele Leute daran interessiert sind, dass alles so bleibt wie es ist. Warum?"
Über ihre Tasse hinwegsehend, antwortete die alte Hufflepuff mit einem beinahe schelmischen Zwinkern: "Weil Sie sonst vielen Leuten auf die Zehen treten."
"Nun, der 'Klitterer' ist bekannt dafür, Leute auf die Zehen zu treten."
Für eine Weile schwiegen die beiden Frauen am Tisch und tranken ihren Tee. Professor Sprout rückte schließlich ihren Hut zurecht und stand auf.
"Ich habe getan, um was mich meine ehemaligen Kampfgefährten gebeten haben.
Einen persönlicher Rat noch von mir: Wenn Sie wirklich an der Wahrheit interessiert sind, Mrs. Lovegood, dann verschwenden Sie Ihre Zeit nicht, indem Sie die falschen Fragen an die falschen Leute richten."
Luna wurde hellhörig.
"Sehen Sie, als Severus damals aus Hogwarts floh und alles zurücklassen musste, da konnte ich nicht glauben, dass er Albus so kaltblütig ermordet haben soll, wie Harry Potter es beschrieb. Warum sollte er das tun, nachdem er jahrelang sein Leben als Spion für den Orden riskiert hatte? Das machte keinen Sinn. Hätte er die Ermordung geplant, wären nicht seine wertvollsten Besitztümer zurückgeblieben."
"Dann ist es also wirklich wahr? Der Professor hat als Spion für den Orden gearbeitet?"
Die alte Dame überhörte Lunas Frage und wühlte stattdessen in ihrer Handtasche herum während sie weiter sprach. Ihre Worte waren jetzt gedämpft. Die Geräusche der Gäste im 'Tropfenden Kessel' übertönten sie fast.
"Ich sage ja nicht, dass er Albus NICHT tötete, doch ich bin der Ansicht, dass das WARUM nie hinterfragt wurde. Vielleicht ist es endlich an der Zeit, die ganze Wahrheit ans Licht zu bringen. Ich könnte mir in dieser Hinsicht nichts Geeigneteres als den 'Klitterer' vorstellen."
"Dann glauben Sie, dass der Professor unschuldig nach Askaban gebracht wurde? Hat Harry vor Gericht falsch ausgesagt?"
"Bei Merlin", der Ton, mit dem Madam Sprout jetzt zu Luna sprach, brachte die alte Lehrerin zum Vorschein, "unschuldig war Severus nun wirklich nicht. Allein um die Tarnung als Spion aufrecht zu erhalten, hat er Dinge getan - und auch ertragen, die Sie sich nicht vorstellen können. In meinen Augen war er ein sehr mutiger Mann. Ob Harry Potter gelogen hat? Das müssen Sie ihn schon selber fragen."
"Geben Sie mir mehr als nur Andeutungen, Professor!" Luna war ganz aufgeregt. Sie spürte ihr Herz wild hämmern, obwohl sie nach Außen hin noch immer die ruhige und besonnene Reporterin mimte. Madam Sprouts Worte bestätigten ihre Ahnungen und natürlich wollte sie mehr wissen.
"Tut mir leid, Kind, ich habe nur Fragen für Sie. Gehen Sie an den Ort, wo Sie Antworten bekommen. Gehen Sie nach Hogwarts."
"Hogwarts?"
Die alte Dame schien nicht zuzuhören. Sie nahm ihre Tasche und verabschiedete sich. Beim Hinausgehen nickte sie dem Wirt zu und ließ eine nachdenkliche Luna zurück.
"Das WARUM!", murmelte sie vor sich hin und zeichnete die Buchstaben vor sich unsichtbar auf den Tisch. "WARUM?"
Es befanden sich, so die damalige Aussage von Harry, neben ihm noch der Direktor und Draco Malfoy auf dem Turm. Dann kamen Todesser hinzu und erst später Snape.
Laut geheimen Protokollen, die sie den alten Akten entnehmen konnte, sagten Malfoy und Harry übereinstimmend aus, dass es einen hässlichen Wortwechsel zwischen den Todessern und Dumbledore gab. Der Direktor war zu dem Zeitpunkt schon schwer verletzt. Die Todesser wollten, dass Draco seinen Direktor tötete, er sich aber weigerte. Mitten in dieser hitzigen Unterhaltung kam Snape auf den Turm, hatte die Todesser beiseite geschoben und ohne ein Wort den Direktor getötet. Dann zerrte er Draco mit sich und floh.
WARUM?
"Gehen Sie an den Ort, wo Sie Antworten bekommen. Gehen Sie nach Hogwarts", wiederholte Luna die Worte ihrer ehemaligen Lehrerin.
"Hogwarts!"
Sie traf eine Entscheidung.
Luna kehrte aus dem 'Tropfenden Kessel' zurück zum Büro. Inzwischen war es bereits später Abend. Sie legte einen Zettel auf den Tisch ihrer Sekretärin, dass sie am nächsten Tag nach Hogwarts aufbrechen würde und nicht wusste, wann sie zurückkam.
Der 4. Tag
Nevilles Geschichte
Hogwarts.
Luna war seit Ende des Krieges nicht mehr hier gewesen. Damals war ein großer Teil des Schlosses zerstört worden. Da dieses Bauwerk aber durchtränkt war von Magie, erholte sich das alte Gemäuer und regenerierte sich wieder.
Jetzt schaute Luna auf ein fast unverändertes Gebäude. Erinnerungen stiegen in ihr auf.
Erinnerungen an glückliche Tage - unbeschwert und voller Träume.
Ihr Herz hüpfte vor Freude, als sie das Tor mit den beiden Ebern erreichte. Es war, als würde sie nach Hause kommen. Sanft berührte Luna die Mauer der Tordurchfahrt und lehnte sich mit dem Ohr dagegen. Die Steine wisperten ihr zu und hießen sie willkommen. Plötzlich vermisste Luna ihre Ohrgehänge aus Radieschen. Ach, könnte man doch die Zeit zurückdrehen.
Es fiel ihr schwer die Tränen zurückzuhalten und nicht völlig sentimental zu werden. Sie war einfach nicht darauf gefasst gewesen von dem Anblick des Schlosses so überwältigt zu werden.
Die Reporterin in ihr schimpfte das kleine verträumte Mädchen eine Närrin und sie solle sich zusammenreißen.
Seufzend ließ Luna die warmen Steine wieder los. Verstohlen zwinkerte sie die vorwitzigen Tränen weg und atmete tief durch. Sie hatte eine Aufgabe zu erfüllen und die erwachsene Luna stimmte ihr zu.
Langsam schritt Luna den Weg zum Schloss hinauf, sah in der Ferne das Quidditchfeld in der herbstlichen Sonne liegen und den See am Fuße der Felsen glitzern. Schon erkannte sie Einzelheiten wie die Gewächshäuser vor dem Schloss und die kleinen Beete daneben. Alles schien unverändert. Lediglich die alte Hütte von Rubeus Hagrid wirkte viel stärker befestigt. Zudem war ein hoher stabiler Zaun darum gezogen. Wahrscheinlich sollte er die magischen Tiere, die der Halbriese immer hielt, davon abhalten auszubrechen.
Die Schlossuhr schlug die zehnte Stunde. Luna beschleunigte erschrocken ihre Schritte. Unglaublich, wie schnell die Zeit verging, wenn man in Erinnerungen versunken war.
Auf der Höhe der Gewächshäuser kamen ihr Schüler entgegen, die alle aus den mit Glas überdachten Anbauten strömten und nun dem Weg zum Schloss zustrebten.
"Und macht nicht so einen Lärm!", klang die Stimme ihres Lehrers aus dem Gewächshaus ins Freie.
Luna blieb stehen und schaute neugierig durch die offene Tür. Ein Mann, groß und schlank mit leicht gelockten Haaren, wischte sich die Hände mit einem Tuch sauber. Als Lunas Schatten in den Eingang fiel, schaute der Lehrer für Kräuterkunde auf. Sein Blick zeigte erst ein sachliches Interesse an der Besucherin, dann Erkennen und schließlich Erstaunen.
"Luna? Luna Lovegood?"
"Hallo Neville!", entgegnete Luna freudig und eilte auf ihren früheren Schulkameraden zu. Die beiden alten Freunde umarmten sich.
"Na, das ist eine Überraschung! Gut schaust du aus! Was treibt dich nach Hogwarts? Ich lese übrigens deine Zeitung gerne! Ich habe sie extra abonniert. Toll, was du aus dem Blatt gemacht hast!"
"Langsam, Neville, langsam. So hole doch erst einmal Luft."
Die beiden setzten sich unter einem wunderschönen Strauch mit grün-silbernen Blättern und fest verschlossenen Blütenkelchen.
Neville sah die bewundernden Blicke von Luna und wie sie verspielt mit den Händen über das Blattwerk glitt.
"Lacrimae Noctis", erläuterte Neville stolz, "'Tränen der Nacht'. Die Pflanze ist selten. Es gibt nur zwei oder drei Exemplare in England und Hogwarts besitzt eine davon."
"Wunderschön!"
"Du solltest sie einmal bei Mondschein sehen, wenn sich die schwarzen Blütenkelche öffnen und die Mondperlen an langen dünnen Fäden heraus gleiten. Der ganze Strauch beginnt dann zu leuchten."
Luna lächelte über Nevilles Begeisterung. Er hatte schon immer ein Händchen für Pflanzen gehabt. "Du bist hier der Gärtner?"
"Nein", lachte Neville, "ich WAR hier der Gärtner und dann habe ich irgendwann den Job von Professor Sprout übernommen. Jetzt bin ich Lehrer für Kräuterkunde. Hättest du nicht gedacht, was? - Ich, zusammen mit anderen Professoren am Lehrertisch?"
Jetzt betrachtete Luna ihren alten Schulfreund genauer. Die Jahre waren mit ihm sanfter umgegangen. Er hatte sein jugendliches Aussehen behalten, wenn auch nicht ganz ohne Fältchen. Das Haar war auch etwas dünner, aber ansonsten...
Mit der Zeit versickerte ihr Gespräch über das, was jeder die letzten Jahre getrieben hatte. Schweigen setzte ein, wie so oft, wenn sich alte Freunde, die sich Ewigkeiten nicht sahen und unerwartet wieder aufeinander trafen.
"Du bist offensichtlich nicht gekommen, um mich zu besuchen. Hast du eine Verabredung mit dem Direktor? Bist du dienstlich hier, oder?"
"Teils, teils!", entgegnete Luna vage. Die Freude des Wiedersehens hatte für einige Zeit ihr Anliegen verdrängt. Schließlich berichtete sie von ihrer Suche nach dem Mörder ihres Vaters und was sie unbeabsichtigt alles erfahren hatte. Die Begegnung mit Professor Sprout verschwieg sie jedoch.
Nevilles Blick schweifte in die Ferne, gedankenverloren, melancholisch. Dann richtete er sein Augenmerk auf die Blätter über ihn.
"Jemand sagte mir, dass ich hier nach den Antworten suchen sollte!"
"Ich weiß nicht, wo du hier Antworten finden willst, Luna. Von den damaligen Lehrern ist keiner mehr da. - Ist nicht alles gesagt worden?"
"Das ist es ja, Neville. Es gibt zu viele offene Fragen, Ungereimtheiten, die ich nicht erklären kann und irgendwie führen alle Spuren zu Snape."
Eigentlich hatte Luna erwartet, dass Neville sofort auf seinen ehemaligen Zaubertranklehrer schimpfen würde, da er jahrelang von ihm drangsaliert worden war. Manchmal war es so schlimm gewesen, dass Neville daran dachte, die Schule aufzugeben. Aber dann, Mitte des sechsten Schuljahres, gab es eine merkliche Veränderung.
Nevilles Leistungen wurden besser und Snape ließ ihn größtenteils in Ruhe.
Doch Neville reagierte ganz anders. "Snape war ein Ekel, wohl wahr, aber ich habe ihm viel zu verdanken. Leider habe ich das zu spät erkannt." Neville schüttelte bitter den Kopf. "Ich bin zwar heute noch immer eine Niete in Zaubertränke - so allgemein, aber es gibt eine Anzahl von Tränken, die ich beherrsche und damit viel Gutes bewirken kann. Allerdings sind meine Tränke nie so wirkungsvoll wie seine. Leider!
Als sich die Ereignisse überschlugen und dann Harry von Snapes kaltblütiger Tat berichtete, war ich fest davon überzeugt, dass Snape genau das getan hat. Ich meine, er war ein Todesser! Was wusste ich damals schon von seiner Tätigkeit als Spion und seiner Arbeit im Orden des Phönix? Nichts! Es gab keinen Grund, Harrys Worten nicht zu glauben."
"Und jetzt? Meinst du, Harry hat gelogen?" Zum zweiten Mal in kurzer Zeit stellte Luna erneut diese Frage, die ihr eigentlich so abwegig vorkam. Warum auch hätte Harry lügen sollen? Und doch ...
"Nein!", wehrte Neville ab. "Er wird das berichtet haben, was er sah, doch womöglich hat er es nur falsch interpretiert? Und nach Dumbledores Tod ... wir waren alle schrecklich aufgewühlt."
"Aber Malfoy soll die Angaben von Harry bestätigt haben."
Jetzt zuckte der Neville nur die Schulter. "Es ist lange her!"
Versonnen betrachtete er die 'Tränen der Nacht'.
"Wusstest du, dass dies hier einer von Professor Snapes Lieblingsplätzen war?", fragte er. "Von Professor Sprout weiß ich, dass er manchmal stundenlang in der Nacht genau auf dieser Bank saß und die Blüten angeschaut hat. Sie sagte mir damals auch, Snape und ich wären uns sogar in mancher Hinsicht ähnlich."
Luna konnte Nevilles Gedanken nicht ganz folgen. "Ich dachte, du hasst ihn!"
"Ja, das dachte ich auch eine Zeit lang, aber ich habe ihm viel zu verdanken - mehr als du ahnst. Er hat mir nicht nur in 'Zaubertränke', sondern auch in 'Verteidigung gegen die Dunklen Künste' private Stunden gegeben. Ohne ihn hätte ich den Krieg wohl nicht überlebt."
Die Schulglocke läutete zum Ende der langen Vormittagspause.
Wie auf ein geheimes Kommando standen beide auf.
"Es war schön, dich wieder zu sehen", sagte Luna und strich ihren Rock glatt.
"Ja", Neville zog sich seinen Arbeitskittel über, "aber vielleicht solltest du rüber zu Hagrids alter Hütte gehen. Womöglich bekommst du da Antworten?"
"Kann man diese Festung überhaupt gefahrlos betreten?" Luna schaute durch die Scheiben des Gewächshauses zum Waldrand hinüber. Eine schmale helle Rauchfahne stieg aus dem Schornstein des Hauses in den Himmel.
"Solange kein Vollmond ist."
Kinder strömten herein und ihr Lärm ließ Luna verstummen, bevor sie noch eine weitere Frage stellen konnte. Sie winkte nur zum Abschied und zwängte sich an den plaudernden und lachenden Schülern vorbei ins Freie.
Hagrids alte Hütte
Der Pausenlärm der Schüler war wieder abgeklungen, als Luna an die vergitterte Pforte kam. Die Tür stand weit offen. Innerhalb des eingezäunten Areals schien es keine wilden Kreaturen zu geben. Zuversichtlicher geworden schritt sie über den kiesbedeckten Weg bis zur Hütte und klopfte an.
Nichts.
Noch einmal klopfte sie und sah sich dabei neugierig um. Innerhalb des Zaunes war der Boden von einer Rasenfläche bedeckt. Kein Strauch, kein Baum und keine Pflanze, die auch nur wenige Zentimeter höher waren als das niedrig gehaltene Gras.
Das sah dem Halbriesen nicht ähnlich. Wo waren seine Beete mit den Riesenkürbissen geblieben? Wo die Verschläge mit seinen magischen Kreaturen?
"Ja?", kam es kühl und reserviert.
Lunas Kopf ruckte erschrocken herum. Ein alter Mann stand in der Tür. Ein sehr alter Mann. Er lugte durch einen schmalen Spalt der Tür ins Freie.
"Oh, Entschuldigung!", stotterte Luna verwirrt. "Ich wollte zu Hagrid."
Der alte Mann schüttelte bedauernd den Kopf. "Tut mir leid, Ma'am, der wohnt schon seit Jahren nicht mehr hier."
"Aber, Neville - ich meine Professor Longbottom - sagte mir, dass ..." Die Wahrheit war, dass Neville nicht davon gesprochen hatte, dass Luna zu dem Halbriesen gehen sollte, sondern zu dessen alter Hütte. Ihr war dabei nicht in den Sinn gekommen, dass er etwas anderes meinen konnte, als den Halbriesen selber.
"Neville hat Sie zu mir geschickt?" Der neue Bewohner in Hagrids Hütte schob jetzt die Tür weiter auf und machte eine einladende Geste.
"Sie müssen nicht in der Tür stehen bleiben, treten Sie ein", sagte er jetzt um einiges freundlicher, "und entschuldigen Sie bitte die Unordnung! Ich bekomme nie Besuch und deswegen ..."
Luna überschritt die Schwelle. Ihre Augen brauchten einige Augenblicke, bis sie sich an das Halbdunkel gewöhnt hatten. Doch statt des erwarteten Chaos eines alten Mannes herrschte in dem einzigen Raum mit dem hohen Dachgestühl Sauberkeit.
Neben der Tür stand ein überdimensionaler Schrank, wahrscheinlich eine Hinterlassenschaft des Halbriesen, so wie der große Kamin.
Alle anderen Möbel waren von normaler Größe. Da waren ein Bett, das hinter einem Vorhang vorschaute, eine abgedeckte Truhe, Stühle, ein Tisch und mehrere Regale, eine Anrichte mit Waschschüssel und Geschirr.
Insgesamt wirkte die Einrichtung spartanisch, alt und verschlissen. Viele der Möbelteile waren zerkratzt und vielfach repariert, aber dennoch wurden sie offensichtlich gut gepflegt.
Auffallend jedoch waren etliche Bücher, die überall herumlagen oder sich zu kleinen Stapeln häuften.
Lunas Gastgeber wies auf den Stuhl, den er frei räumte, indem er die sich darauf befindlichen Bücher auf einen vorhanden Stapel legte, der bedenklich zu schwanken begann, sich dann aber doch entschied, tapfer und schief stehen zu bleiben.
"Kann ich Ihnen einen Tee anbieten?" Ohne eine Antwort abzuwarten, begann der Fremde am offenen Feuer zu hantieren.
"Sie sagten, Neville hat Sie geschickt?", klang seine Stimme wie ein Echo aus dem Kaminschacht dumpf wieder. "Hat er einen besonderen Wunsch?" Die Stimme wurde wieder klar, sobald sich der alte Mann zu Luna umdrehte und den Tee aufbrühte. "Entschuldigen Sie die großen Tassen, aber mein Vorgänger, von dem ich dieses Haus sozusagen geerbt habe, war ein Halbriese. - Ach, das wissen Sie ja, Sie wollten schließlich zu ihm."
Während der Mann so vor sich hin plauderte hatte Luna Muße genug, ihn ein wenig näher zu betrachten. Die gebeugte Haltung, die schlurfenden Schritte und auch die brüchige Stimme ließ sie das Alter des Mannes auf über Hundert schätzen. Er sah sie nie direkt an. Ihr blieb dennoch nicht verborgen, dass sein Gesicht völlig zerkratzt war und auch seine Hände wiesen Narben auf. Obwohl sie sich dafür interessierte, woher diese Verletzungen stammen konnten, verstand sich von selbst, dass sie von einer solchen Frage Abstand nahm. Wahrscheinlich stammten die Verwundungen noch aus dem Krieg gegen Voldemort und sie hatte nicht die Absicht, ihren Gastgeber unhöflich daran zu erinnern. Andererseits waren einige der Kratzer scheinbar früheren Datums.
Ihre Blicke, so diskret sie auch gewesen sein mochten, waren dem Mann nicht entgangen.
"Es stört mich nicht, wenn Sie mich so genau betrachten, ich bin es gewöhnt."
Eine gewisse Traurigkeit lag hinter diesen Worten versteckt, die Luna seltsam berührte.
Dann stellte sie fest, dass sie sich noch nicht vorgestellt hatte.
"Vom 'Klitterer', ja?" Nachdem der alte Mann die Tassen gefüllt hatte setzte er sich Luna gegenüber. "Sie erinnern sich nicht mehr an mich, Mrs. Lovegood?"
Luna schüttelte ehrlich den Kopf. "Nein!"
"Das ist in Ordnung. Ich habe Sie auch nur ein Jahr lang unterrichtet. Da waren Sie im zweiten Jahr an der Schule."
In dem Moment fiel es Luna wie Schuppen von den Augen. Wie ein Puzzle setzten sich die Teile zusammen: die Befestigung um das Haus, die Kratzspuren auf den Möbeln, Nevilles Andeutung wegen der Zaubertränke und die Narben des alten Mannes.
"Sie sind Remus Lupin!"
Lupins Geschichte
"Ja, der Werwolf!"
"Ich erinnere mich", dieses Mal war es an Luna, zu lächeln. Sie versuchte ihre Einschätzung von vor wenigen Minuten zu revidieren, aber es gelang ihr nicht. Noch immer wirkte die Behausung ärmlich. Sie hatte erwartet, dass einer der bekanntesten Veteranen des Krieges in besseren Verhältnisse leben würde.
"Auch Helden geraten irgendwann in Vergessenheit"
Luna hielt in der Bewegung inne. Die Tasse, die sie zum Mund führte blieb auf halbem Wege in der Luft stehen. War sie so leicht zu durchschauen? Konnte Lupin in ihrem Gesicht lesen wie in einem Buch. Oder hatte er...
Remus schlug die Augen nieder. "Nein, ich krame nicht in fremden Gedanken, Mrs. Lovegood. Aber ich kenne die Fragen, die sich jeder stellt, wenn er sich versehentlich zu mir verirrt. Außer natürlich die Leute vom Ministerium. Die stellen sich solche Fragen nicht."
Jetzt schlug Lupin die Augen wieder auf. Seine braunen Augen ruhten auf der jungen Frau, die in der Blüte ihrer Jahre stand. "Aber ich habe keinen Grund mich zu beklagen. Im Gegensatz zu den anderen Werwölfen lebe ich relativ unabhängig und frei."
Luna stutzte. Da hörte sie zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage jemanden sagen, dass es ihm noch gut ging, obschon seine Lebensumstände nicht gerade rosig waren.
"Aber was ist passiert?", fragte sie mit echter Anteilnahme.
Für einen Moment herrschte Stille am Tisch. Luna konnte sehen, dass ihr ehemaliger Lehrer nachdachte und wohl abwog, was und wie viel er ihr sagen konnte. Schließlich traf er eine Entscheidung. Seine Hände strichen über die raue Tischplatte, dann sah er sie an.
"Kennen Sie das sogenannte 'Werwolfsgesetz'? Richtig heißt es eigentlich 'Gesetz zum Schutz und zur Integration von Werwölfen'. Es wurde kurz nach dem Krieg in aller Eile in Kraft gesetzt, das war irgendwann im Sommer 2002."
"Ich habe mich, offen gestanden, nicht darum gekümmert. Ich weiß, dass es ein solches Gesetz gibt, kenne jedoch keine Details."
"Dann ist es vielleicht an der Zeit, dass Sie etwas darüber erfahren, Mrs. Lovegood."
Lupin strich sich ein fahrig durch das schüttere graue Haar. "Ich denke, ich muss etwas weiter ausholen. Sie waren während des Krieges dabei. Sie wissen also, dass sich die Werwölfe zum größten Teil Voldemort angeschlossen haben. Er versprach ihnen Anerkennung und einen Platz in der neuen Gesellschaft. Das war mehr, als sie bis dahin erleben durften. Ich weiß wovon ich spreche. Im Auftrag von Dumbledore war ich monatelang vor dem Krieg unterwegs, um mit ihnen zu reden und um sie auf unsere Seite zu ziehen. Es gelang mir nur selten. - Leider.
Als der Krieg ausbrach, wüteten die Werwölfe oft furchtbar unter ihren Gegnern. All ihr Hass und ihre erlittenen Demütigungen entluden sich. Damit wurden sie einmal mehr den Vorurteilen der Zaubererwelt gerecht. Es ist ein einziger Teufelskreis in dem unsereins auf ewig gefangen ist."
An dieser Stelle unterbrach sich der alte Mann. Seine Hände zitterten vor Aufregung und hilflose Verzweiflung durchtränkte sein Gesicht. Um zur Ruhe zu kommen, stand er auf, um eine neue Kanne Tee aufzubrühen. Als er damit fertig war, setzte er sich erneut Luna gegenüber. Sie konnte sehen, dass der Mann sich wieder gefangen hatte.
"Es ist also nicht verwunderlich", fuhr er jetzt mit neutraler Stimme fort, "dass nach dem Krieg laut über das Schicksal der Werwölfe nachgedacht wurde. Keiner wollte die Kreaturen auch nur Ansatzweise in seiner Nähe haben. War das verwunderlich? Dabei machte man keinen Unterschied, ob ein Werwolf auf der Seite des Lichts gekämpft hatte oder für Voldemort.
Die radikalsten Gegner der Werwölfe wollten uns zum Abschuss freigeben, aber das erschien den anderen wohl doch zu drastisch. Am Ende beschloss das Ministerium ein Reservat einzurichten, das kein Werwolf je wieder verlassen durfte. Wer außerhalb dieses Reservates angetroffen wurde, konnte sofort getötet werden. So hoffte man das Problem beseitigt zu haben. Es gab weitere diskriminierende Maßnahmen, auf die ich hier nicht eingehen will. In jedem Fall wurden Werwölfe nun völlig entrechtet.
Natürlich gab es Hexen und Zauberer, die sich für uns einsetzten, aber ihre Stimmen wurden vom Hass der anderen übertönt und der einzige Zauberer, der unser Schicksal hätte abwenden können, war tot."
"Dumbledore!"
Lupin nickte.
"Ich fürchte, ich bin der einzige Werwolf, der wenigstens noch einigermaßen menschlich leben darf."
"Was hat Sie vor einem ähnlichen Schicksal wie das Ihrer Artgenossen bewahrt?", wollte Luna wissen. Sie hatte den Tee vergessen und lauschte angespannt den Worten des Mannes ihr gegenüber.
Lupin verzog bitter den Mund. "Meine Freunde, die ich damals noch hatte. - Nach Dumbledores Tod übernahm Minerva McGonagall den Posten des Direktors. Während des Krieges holte sie mich an die Schule zurück. Ich übernahm offiziell wieder 'Verteidigung gegen die Dunklen Künste'. In Wirklichkeit zogen wir unsere Kräfte in Hogwarts zusammen." Wieder unterbrach sich Lupin.
Je mehr Luna erfuhr, umso nachdenklicher wurde sie. Mit Lupins Erzählung tauchten auch ihre eigenen Erinnerungen aus dem Vergessen auf. Längst verloren geglaubtes stand ihr wieder deutlich vor Augen. Natürlich hatte der 'Klitterer' auch zu den Werwolfsgesetzen Stellung bezogen. Doch damals war die Zeitung noch nicht bekannt genug, um ein gewichtiges Wort mitzureden und ihr mangelte es noch an der nötigen Erfahrung, sich gegen das Ministerium zu stellen.
Die Fürsprache der Zeitung für die Werwölfe und gegen das Gesetz war auch Harry Potter geschuldet, der durch eigene Erfahrung mit Lupin wusste, dass eine pauschale Verurteilung der Werwölfe falsch war. Aber das war damals.
Ihr fiel jetzt auf, dass heute in der Öffentlichkeit die Problematik der Werwölfe totgeschwiegen wurde. Es gab kaum Fälle von Infizierungen mit der Krankheit oder Opfer. Das hat natürlich dazu beigetragen, das Gesetz als richtig anzusehen.
Wer verwaltet das Reservat? Wie sieht es darin aus? Wie leben die Werwölfe dort, wenn sie nicht verwandelt sind? Wovon leben sie?
Fragen, nichts als Fragen. Da war also noch ein Gebiet, über das der 'Klitterer' berichten sollte, um die Werwölfe der Vergessenheit zu entreißen.
"Nach Ende des Krieges", berichtete Lupin nun weiter, "wurden die Mitglieder des Ordens als Helden gefeiert - auch ich. Als dann das Werwolfsgesetz in Kraft trat, war es unmöglich einen dieser Helden einfach wegzusperren. Minerva brachte das Ministerium dazu, mir das Bleiberecht auf Lebenszeit hier auf dem Hogwarts-Gelände zu garantieren. Ich bekam zwar Auflagen, doch kann ich mich noch heute frei auf den Länderreihen bewegen und habe sogar eine Anstellung, bei der ich ein wenig Geld verdiene. Hagrids Hütte wurde extra für mich eingerichtet, so dass ich während der Vollmondphase ausbruchsicher untergebracht war."
"Und die Auflagen?"
"Ich werde von einem Ministeriumsbeamten zwei Tage vor Vollmond bis zwei Tage nach Vollmond eingeschlossen. In der Zeit bin ich auf mich allein gestellt.
Eine medizinische Versorgung im Zusammenhang mit meiner Krankheit darf ich nur nach genehmigtem Antrag in Anspruch nehmen.
Mir ist untersagt das Schulgelände zu verlassen.
Ich habe mich von den Schülern fern zu halten und darf keinen Kontakt mit anderen Werwölfen unterhalten.
Jegliche Meinungsäußerung in der Öffentlichkeit ist verboten."
Lupin leierte die Liste tonlos herunter. Seine Stimme begann erst wieder eine Gefühlsregung zu zeigen, als er die Aufzählung mit dem folgenden Satz schloss: "Und ich habe kein Recht einen Zauberstab zu besitzen. - Zum Glück brauche ich keinen Stab, wenn ich Neville in den Gewächshäusern zur Hand gehe."
"Das habe ich alles nicht gewusst", sagte Luna betroffen, "nicht einmal geahnt."
"Ja", antwortete Lupin tonlos.
"Aber es gibt doch noch den Werwolfstrank. Wozu das Wegsperren?"
"Mrs. Lovegood, kein Werwolf kann sich den Trank leisten. Er ist zu teuer, um ihn jeden Monat zu kaufen."
In diesem Moment fiel Luna Snape ein. Der hatte Lupin früher mit dem Trank versorgt, das wusste sie von Hermine. Selbst nachdem ihr Lehrer nicht mehr an der Schule war, braute Snape diesen Trank für Lupin weiter. Ein merkwürdiges Verhalten für einen kaltblütigen Todesser, fand Luna. Warum hätte Snape das tun sollen? Dann, in ihrem fünften Schuljahr, floh der Zaubertranklehrer aus Hogwarts. Ob Lupin danach noch immer seinen Trank bekommen hatte bis Snape verhaftet wurde? Sie traute sich nicht danach zu fragen.
Die Umstellung, plötzlich wieder ohne Trank auskommen zu müssen, musste für den Werwolf furchtbar gewesen sein.
"Ich finde, dass Ihr Schicksal und das Ihrer Leidensgenossen der Öffentlichkeit wieder bewusst gemacht werden muss. Wären Sie bereit dem 'Klitterer' diesbezüglich ein Interview zu geben?"
Lupin wollte etwas erwidern. Er hatte schon den Mund geöffnet, als Luna die Hand hob. "Tut mir leid, ich weiß, Sie dürfen sich nicht äußern. Aber gibt es jemanden, der für Sie sprechen kann? Oder besser gesagt: ÜBER Sie? Jemand, dem Ihr Schicksal nicht gleichgültig wäre?"
Dieses Mal schüttelte der Mann den Kopf. "Ich will keinen in Schwierigkeiten bringen. Lassen Sie die Sache auf sich beruhen."
Luna merkte, dass sie den alten Werwolf mit ihren Fragen emotional aufgewühlt hatte. Sie wollte ihn nicht noch mehr aufregen, wenn sie jetzt hartnäckig an der Sache dran blieb. Zudem war sie doch aus einem ganz anderen Grund hier her gekommen.
Nach einem Schluck von ihrem inzwischen wieder kalt gewordenen Tee wollte sie das Thema wechseln. Aber sie kam nicht dazu. In der Ferne hörte sie die Schlossuhr Mittag schlagen und zeitgleich klopfte jemand an der Tür. Erstaunt sah Luna zurück zum Eingang.
"Ich habe ganz vergessen, Sie zu fragen, Mrs. Lovegood, ob Sie zum Mittag bleiben möchten. Darf ich Ihnen etwas aus der Küche des Schlosses anbieten?", fragte Lupin während er zur Tür ging.
"Das wäre kein Problem", fügte er eilig hinzu, als er ihre Antwort ahnte.
Inzwischen war Lupin an der Tür und öffnete sie. Vor dem Eingang stand ein kleiner, alter Hauself mit einem Tablett voller abgedeckter Schüsseln.
"Komm rein, Tobby!", sagte Lupin und ließ den Hauselfen eintreten.
Der Elf bedachte Luna mit einem Blick zwischen Misstrauen und Skepsis. Dann entschloss er sich zu einem unverbindlichen Lächeln.
"Tobby, das ist Mrs. Lovegood. Sie war vor vielen Jahren Schülerin in Hogwarts. Vielleicht erinnerst du dich an sie?"
Mit leichtem Scheppern stellte Tobby das Tablett auf dem Tisch ab. "Guten Tag, Ma'am, sehr erfreut."
"Guten Tag", antwortete Luna freundlich. Der Elf lächelte zurück, so dass sein Mund sich über das ganze Gesicht verbreiterte.
Während sich sein Gast und der Hauself begrüßten, lüftete Lupin die Deckel auf den Schüsseln. Ein verführerischer Duft von gebratenem Fleisch und Gemüse ließ Luna sich nach den Speisen umdrehen. Sie bemerkte, wie ihr Magen voller Vorfreude hüpfte und mit einem leichten Knurren sein Recht verlangte.
"Bleiben Sie zum Essen?", fragte Lupin erneut und erntete von Luna ein heftiges Kopfnicken.
"Tobby ist gleich wieder da!" Schon war der Hauself verschwunden. Augenblicke später klopfte es erneut an der Tür.
"Er traut sich noch immer nicht direkt im Haus zu erscheinen", entschuldigte sich Lupin bei Luna. Und wirklich stand Tobby wieder vor der Tür, zusammen mit einem weiteren Gedeck.
Gemeinsam setzten sie sich zu Tisch und genossen schweigend das herrliche Essen aus Hogwarts berühmter Küche.
Eine gemischtere Gruppe von Individuen sah man selten so friedlich vereint: eine Hexe, ein Werwolf und ein Hauself.
Tobbys Geschichte
Während des Essens wanderten Lunas Blicke immer wieder verstohlen zu dem kleinen Hauselfen. "Warte, ich reiche dir die Schüssel rüber", sagte sie, als Tobby mit seinen kurzen Armen versuchte an die Kartoffeln zu gelangen. Tobby hielt inne, lächelte verlegen und senkte den Kopf. Sein Besteck legte er beiseite und vermied den Augenkontakt.
"Du kannst ruhig weiter essen, Tobby", beruhigte Lupin den kleinen Elfen. "Du siehst ja, Mrs. Lovegood hat nichts dagegen, dass du mit am Tisch sitzt."
"Es ist nicht richtig!", flüsterte Tobby und senkte den Kopf beschämt tiefer, dass seine Nasenspitze fast den Teller berührte. "Hauselfen sollten dienen und nicht bedient werden."
Verständnislos sah Luna zu ihrem Gastgeber hinüber. Sie wusste, wie jede andere Hexe und jeder andere Zauberer auch, dass Hauselfen schon lange keine Haussklaven mehr waren. Sie konnten sich frei in der Gemeinschaft der Zauberer bewegen und für ihre Dienste einen Lohn verlangen. Die Gesetzesvorlage wurde mit Hilfe von Hermine Granger, die ihren Feldzug zur Befreiung der Hauselfen nach dem Krieg wieder aufgenommen und vorangetrieben hatte, in der Bevölkerung positiv diskutiert.
Zudem saß das Misstrauen gegenüber allem, was die Todesser als gut und richtig ansahen, tief. Da die meisten Todesser Reinblüter waren und etliche von ihnen Besitzer von Hauselfen, war es einfach eine Herzenssache der Hexen und Zauberer dieses Gesetz zu begrüßen.
2006 trat das 'Freilassungsgesetz für Hauselfen' in Kraft. Per Anordnung wurde jedem Hauselfen Kleidung und damit die Freiheit geschenkt.
Was die Zauberergemeinschaft als selbstlosen Schritt erachtete, rief bei vielen Hauselfen wenige Begeisterungsstürme aus. Sie wussten mit ihrer plötzlich gewonnenen Freiheit herzlich wenig anzufangen. Nur einige Freigeister vom Schlage eines Dobby freuten sich und machten Gebrauch davon.
Für alle anderen Hauselfen änderte sich das Leben jedoch nicht. Sie blieben, wenn sie konnten, in den Häusern in denen sie schon so lange lebten und dienten ihren Familien weiterhin voller Hingabe und Aufopferung. Auch in Hogwarts war das so.
"Hauselfen sollen dienen dürfen!", sagte Tobby noch einmal mit einem gewissen Trotz in der Stimme.
"Und dein früherer Besitzer wollte nicht mehr, dass du ihm weiter dienst?", fragte Luna taktvoll.
Tobby schaute jetzt auf und seine großen Kulleraugen füllten sich mit Tränen. Zwar bemerkte Luna, dass Lupin ihr unmissverständlich ein Zeichen gab, das Thema nicht zu vertiefen, doch es war zu spät.
Der kleine Hauself schluchzte herzerweichend. "Mein Professor ist schon so lange fort. Wenn er noch da gewesen wäre, hätte man Tobby nicht einfach frei gelassen. Er hätte nicht zugelassen, dass ich die Freiheit bekomme. Niemals!"
"Dein Besitzer war ein Professor?"
Wieder versuchte Lupin Luna mit Zeichen zu verstehen zu geben, dass sie nicht weiter reden sollte, doch er gab schließlich auf. Dem Hauself liefen bereits die Tränen über das Gesicht und tropften in das Essen während er heftig nickte.
"Er war wohl immer ganz nett zu dir?"
Dieses Mal schüttelte Tobby jammernd den Kopf. "Er war sehr, sehr streng und launisch, aber er hat Tobby immer beschützt."
So richtig wusste Luna mit dieser Aussage nichts anzufangen und schaute fragend auf Lupin. Dieser seufzte ergeben. "Dumbledore hat Tobby mit der persönlichen Betreuung von Snape beauftragt."
Das war Luna völlig neu.
"Sie wissen doch, die Hauselfen von Hogwarts gehorchten dem jeweiligen Direktor und der wies ihnen die Arbeit zu. So kam Tobby also zu Snape."
Tobby, bei dem scheinbar alle Dämme gebrochen waren, schluchzte immer lauter. "Mein armer Professor!", schniefte er. "Alle sagen, dass er ein kaltblütiger Mörder ist, der den geliebten Direktor umgebracht hat. Aber das ist nicht wahr. Er hätte dem Direktor nie freiwillig etwas angetan. Niemals! Mein Professor war nicht so schlecht, wie sie alle behaupten. Er hat doch nur gehorcht. Er hatte keine Wahl! Er war doppelt gebunden - an den Schwur und an das Versprechen! - Warum haben ihm alle so Unrecht getan?"
Tobby rutschte vom Stuhl und eilte zu der Truhe, die unter einer schweren Decke verborgen in einer Ecke stand. Dort kniete er sich nieder und strich traurig mit den Händen darüber. "Warum glaubt keiner einem Hauselfen wie mir?"
Mit einem letzten Seufzer kletterte Tobby auf die Truhe und rollte sich in die Decke ein.
Luna wollte dem Hauselfen folgen und ihm sagen, dass es ihr Leid tat, aber Lupin hielt sie zurück. "Nicht!", schüttelte er den Kopf. "Er braucht jetzt etwas Zeit, dann geht es schon wieder."
Luna schaute zurück in die Ecke, wo die Truhe stand und der Hauself darauf lag.
"Hat er denn keinen bequemeren Platz, als diesen da?"
"Nein, ich habe ihm angeboten ein Bett zu bauen und ihm freigestellt sich eine passende Ecke in der Hütte zu suchen, aber Tobby wollte nichts weiter als einen Platz für die große Truhe und, dass er auf ihr schlafen durfte."
"Hat er denn keine Unterkunft im Schloss? Ich meine, er gehört doch zum Schloss, oder?"
Jetzt lachte Lupin kurz auf, ein Lachen voller Bitterkeit.
"Tobby ist, wie ich, ein Ausgestoßener. Er hat Bleiberecht in Hogwarts aus früheren Tagen, deswegen sind er und ich hier auch nur geduldet."
Jetzt zögerte Lupin weiter zu sprechen, aber dann entschied er sich dafür. "Eines Tages, etwa zwei Jahre nach Beendigung des Krieges, tauchte er mit dieser Truhe mitten im Haus bei mir auf. Er fragte, ob ich ein Plätzchen hätte für ihn. Er würde sich auch um das Haus kümmern und ganz fleißig arbeiten. Er wolle keinen Lohn, nur einen Platz für sich und die Truhe. Ich habe ihn nie gefragt, was sie enthält, kann es mir aber denken. - Tja, so kam ich zu einem Hauselfen. Inzwischen sind wir so etwas wie Freunde, aber seine Erziehung als Hauself kann er einfach nicht abstreifen."
"Und was hat ihn im Schloss so in Ungnade fallen lassen?"
"Seine Treue und Loyalität gegenüber seinem Professor - zu Snape!"
Luna schaute nachdenklich auf die Tischplatte, wo noch immer die Reste ihrer unterbrochenen Mahlzeit standen. Sie wusste die ganzen Informationen nicht einzuordnen, doch passten einige Andeutungen zu dem, was ihre Recherchen bereits ergeben hatten. Allerdings brachte sie das keinen Schritt weiter. Sie hatte noch zu wenig Teile für ihr Puzzle. Nichts ergab ein klares Bild.
Schließlich stand sie auf und ging zu Tobby hinüber. Luna konnte sich noch sehr gut an den Tod von Dumbledore erinnern. Die Nachricht war ein Schock für alle Hexen und Zauberer. Was Snape anging, so wusste sie nur von dem Hass, der ihm entgegenschlug, ihm, dem verrufenen, verräterischen Mörder. Harry konnte nicht oft genug betonen, wie gnadenlos er dem alten, verletzten Direktor gegenübergetreten war, um ihn zu töten.
Als die Auroren Snape endlich, endlich fassen konnten, wurde dem Mann der Prozess gemacht. Das Ministerium erweiterte den größten Gerichtssaal, um all den Hexen und Zauberern Platz zu geben, die die Verhandlung als Zuschauer verfolgen wollten. Alle Mitglieder des Zauberergamots saßen zu Gericht. Der Platz des Vorsitzenden blieb in Andenken an Dumbledore leer und war mit Blumen geschmückt.
Harry trat als Augenzeuge und Mitkläger auf.
Luna erinnerte sich an die Bilder, die der 'Klitterer' veröffentlichte. Sie zeigten die betroffenen Gesichter der Zuhörer, die unergründlichen Mienen der Richter und immer wieder Harry mit seinen leidenschaftlichen Schilderungen.
An Snape erinnerte sie sich kaum. Da gab es ein Bild, in dem er im Verhörkäfig stand, lediglich mit einer grauen Hose und Hemd bekleidet. Um den Hals hat man ihm, wie eine stumme Anklage, die Maske des Todessers gehängt, die auf seiner Brust baumelte. Die Maske sollte jedem zeigen, wer dieser Mann im Käfig war.
Soviel sie wusste, verweigerte Snape im Prozess jede Aussage. Er blieb während der gesamten Verhandlungstage einfach stumm.
Die Mehrheit der Zuschauer, wie der Richter, sahen darin sein Schuldeingeständnis.
Damit war Snape verurteilt. Nichts hätte ihn mehr retten können. Auf die Idee, dass das Urteil ohnehin schon längst feststand, war Luna damals nicht gekommen. Aber es hätte nichts daran geändert, denn Snape war so schuldig wie er nur sein konnte. Jeder wusste das. Wer hätte wohl auch die Worte des Jungen, der überlebt hat, bezweifeln wollen?
Luna kniete sich vor die Truhe und strich dem Hauselfen sanft über den Kopf.
"Es tut mir leid, Tobby, ich wollte deine Gefühle nicht verletzten. Ich weiß genau, wie du dich jetzt fühlst. Auch ich habe jemanden verloren, der mir viel bedeutete."
"Tobby wollte doch nur Gerechtigkeit!", schniefte der Hauself. Er lag mit dem Gesicht zur Wand. Er zog die schäbige Decke enger um sich.
"Deswegen war Tobby ungehorsam und hat heimlich das Schloss verlassen, um bei der Gerichtsverhandlung seinen Professor sehen zu können. Tobby hat erkannt, dass sie ihm wehgetan haben. Er war nicht mehr in der Lage zu sprechen, sie haben ihn mit einem Fluch belegt. Tobby musste mit ansehen, wie sein Professor sich kaum aufrecht halten konnte und immer wieder starrte er den Jungen, der überlebt hatte, an."
Ein Schatten fiel auf Luna und den Elfen. Lupin war herangetreten und ging vor der Truhe in die Hocke.
"Lass mich das Ende der Geschichte erzählen!", sagte er sanft.
Tobby nickte.
"Da keiner für Snape sprach und er sich selber offensichtlich nicht verteidigen wollte - oder konnte - überwand Tobby seine ganze Angst und erhob seine Stimme. Er wollte als Zeuge gehört werden, wollte alles sagen, was er wusste. Doch die Anwesenden verlachten den Hauselfen, einige empörten sich, dass er überhaupt wagte unter Zauberern aufzutreten. All seine flehendlichen Bitten um Gehör wurden schroff abgewiesen. Harry selbst erklärte, dass Tobby der Hauself von Snape wäre und deswegen ohnehin nicht glaubwürdig.
Unter Bewachung wurde Tobby zurück nach Hogwarts gebracht."
"Ja!" Luna nickte langsam. "Ich erinnere mich daran. Keiner von uns wollte den Hauselfen hören. Die Entscheidung des Gerichts wurde mit Zustimmung aufgenommen.
Je länger ich darüber nachdenke, um so mehr erscheint mir, zumindest aus heutiger Sicht, dass diese Verhandlung nur eine Farce war. Aber", sie hob instinktiv abwehrend die Hände, "das war damals eine schwierige Zeit. Die Todesser gewannen mehr und mehr die Oberhand. Es stand schlecht um die Zukunft aller magischen Wesen in England. Wir brauchten Erfolge. Ein kleiner Hauself, der für Dumbledores Mörder eintrat, war da nur störend. - Oh, bei Merlin! Wie konnten wir unsere Grundsätze nur so verraten?"
"Angst ist immer ein schlechter Ratgeber, Mrs. Lovegood." Die Erinnerungen an die Vergangenheit setzen auch dem Werwolf allmählich zu. Dennoch fuhr er fort, Tobbys Geschichte zu erzählen.
"Sein Fernbleiben wurde im Schloss bemerkt. Die Hauselfen in der Küche verrieten es der Direktorin. Das gab ihr Zeit sich auf die neue Situation einzustellen. Als die Auroren Tobby nach Hogwarts zurückbrachten, war McGonagall bestens informiert.
Minerva konnte Tobbys Verhalten natürlich nicht so durchgehen lassen, ohne dabei den Hausfrieden unter den Elfen zu gefährden. Sie verwarnte Tobby und drohte ihm mit der Freilassung und dem Rauswurf aus Hogwarts.
Tobby war von dem Tag an unter den Hauselfen nicht mehr willkommen und zog sich immer mehr zurück. Mehrere Monate vergingen und dann verschwand er erneut aus dem Schloss. Das allein war schon schlimm genug, aber das er dann auch Magie anwandte ... Minerva setzte alle Räder in Bewegung, um Tobby ein Verfahren zu ersparen."
"Magie? Was hat er getan?"
"Er hat versucht nach Askaban zu kommen, um nach Snape zu sehen. Doch die Zauber, die das Gefängnis schützen, sind selbst für ein so starkes magisches Geschöpf wie ein Hauself zu mächtig. Tobby musste scheitern.
Von da an wurde er von den anderen Hauselfen noch mehr verachtet. Sie nannten ihn einen Verräter, einen Freund der Todesser, und beschimpften ihn furchtbar. Keiner wollte mehr etwas mit ihm zu tun haben. Nicht einmal arbeiten ließen sie ihn. Selbst als der Krieg beendet war, blieb Tobby ein Verstoßener.
Bald darauf trat das 'Werwolfsgesetz' in Kraft und ich musste aus dem Schloss in Hagrids verlassene Hütte ziehen. Kurz danach tauchte Tobby zum ersten Mal bei mir auf. Er kam dann immer wieder vorbei, bis er schließlich diese Truhe anschleppte und ganz hier blieb. Einige Zeit lang fand auch Snapes Rabe Unterschlupf unter diesem Dach. Er verschwand jedoch immer wieder für Tage. Ich nehme an, er flog nach Askaban. Irgendwann kam er nicht mehr zurück."
Für eine Weile herrschte Schweigen und jeder der drei hing seinen Gedanken nach. Dann schaute Luna auf und sah in die traurigen braunen Augen ihres ehemaligen Lehrers. Das Leben hatte es mit ihm nicht gut gemeint und dennoch strahlte er eine Zuversicht und Sanftheit aus, die sie in sich nicht spüren konnte. Nicht nach all dem Gehörten.
Sie sah zu dem Hauselfen, der in seiner Decke gerollt auf dieser Truhe lag. "Tobby, hätte das, was du dem Gericht sagen wolltest etwas an dem Urteil für Snape geändert?", fragte sie.
"Das kann Tobby nicht sagen und es spielte auch keine Rolle mehr, oder? Auf Tobby hört keiner."
"Du hältst Snape für unschuldig?"
Tobby seufzte und wischte sich mit den Handrücken über die Augen. "Ein Hauself behält die Geheimnisse seiner Familie für sich, darüber wird Tobby nichts sagen, aber was den Tod des großen Dumbledore angeht, so tat der Professor nur das, was ihm der Direktor in einem Versprechen abgerungen hatte."
"Warst du dabei? Hast du es gehört?"
"Nein, aber Tobby hat mit dem Porträt des Direktors gesprochen."
"Aber Tobby, es gibt kein Porträt von Albus Dumbledore."
Wie zur Bestätigung schüttelte auch Lupin den Kopf. "Zumindest ist keines bekannt", räumte er vorsichtig ein.
Der Hauself drehte sich um. Seine Augen loderten vor Zorn. "Doch, Tobby hat mit dem Porträt gesprochen, bevor es versteckt wurde."
"Und wer hat das getan?" Lunas Frage ließ deutlichen Unglaube erkennen. Warum sollte man das einzige sprechende Porträt des großen Zauberers Albus Dumbledore verstecken?
"Das weiß Tobby nicht."
Lupin zog Luna von dem Elfen weg. "Bitte, wir sollten ihn nicht noch mehr aufregen."
"Es ist so viel Zeit vergangen und er steht noch immer zu Snape. Unglaublich, oder?"
"Manche Erinnerungen verblassen nie. - Kommen Sie, Mrs. Lovegood, lassen Sie uns ein wenig nach draußen gehen."
Remus Lupin legte der Frau ihren Umhang über die Schulter, bevor er sich seinen überwarf. Er öffnete Luna die Tür. Beide traten in den sonnigen Herbstnachmittag hinaus.
Langsam schlenderte das ungleiche Paar über die Wiese hinunter zum See, während sie in alten Schulerinnerungen schwelgten und für eine kleine Weile ihre eigenen Sorgen vergaßen.
Erst unter der großen Weide, unter deren Krone schon Generationen von Schülern gesessen hatten, kam Lupin wieder auf den Grund von Luna Lovegoods Besuch zu sprechen.
"Jetzt haben Tobby und ich Ihnen so viele eigene Sachen erzählt, dabei kenne ich nicht den Grund Ihres Kommens. Das hier ist doch nicht ein nostalgischer Besuch der alten Zeiten wegen, oder Mrs. Lovegood? Eine so viel beschäftigte Frau wie die Besitzerin des 'Klitterers' pflegt ihre Zeit nicht mit ergrauten alten Männern zu vergeuden. Sie kamen doch aus einen ganz bestimmten Grund nach Hogwarts?"
"Sie haben Recht", Luna ließ ihren Blick über den See gleiten, genoss ein letztes Mal das wohlige Gefühl von einer unbeschwerten Vergangenheit. Sie schaute zum Schloss mit den vielen Türmen und suchte nach Vertrautem. Da war der Turm der Gryffindors und der Flügel der Hufflepuffs. Weiter südlich der Turm der Ravenclaws und dicht über den steilen Felsen, zum See hin, die Fenster der Kerker, in denen die Slytherins untergebracht waren.
Doch was immer sie an Bekanntem entdeckte, es gehörte nicht mehr zu ihrem Leben.
So plötzlich wie das warme Gefühl nostalgischer Erinnerungen gekommen war, verschwand es wieder. Luna, die verschrobene Schülerin, wurde wieder zu Mrs. Lovegood.
Lupin und sie setzten sich auf eine Bank, die unter der Weide stand und Luna berichtete von ihrer Suche nach dem Mörder ihres Vaters.
"Könnte Snape es wissen?"
"Schwer zu sagen. Er galt als ein Hochrangiger bei den Todessern, als einer aus dem Inneren Kreis. Doch auch er war nicht immer über alles informiert. Zumindest während er noch für den Orden gearbeitet hatte."
"Es gab noch mehr Informanten, deren Name nie an die Öffentlichkeit drangen."
Lupin reagierte nur mit einem Schulterzucken.
"Ich habe einen solchen Namen bekommen: Draco Malfoy!"
"Das einzige was ich zu Draco Malfoy sagen kann, Mrs. Lovegood, ist im gleichem Maße gut wie schlecht. Er hat Snape in die Falle gelockt und ihm allein ist es zu verdanken, dass die Auroren ihn fangen konnten. Mit Sicherheit wurde der Krieg dadurch entscheidend verkürzt, denn Snape war Voldemorts Stratege. Doch gleichzeitig hat Malfoy einen Mann verraten, der einst sein Mentor war und dem er sein Leben verdankte. Wägen Sie also gut ab, ob Sie einem solchen Menschen vertrauen wollen."
Mit diesen Worten stand Lupin auf. Luna konnte sehen, dass es den alten Mann sehr erregt hatte, als sie auf Malfoy zu sprechen kam.
"Ich bedaure, dass ich Ihnen nicht helfen konnte und Sie den weiten Weg nach Hogwarts ganz umsonst gemacht haben."
Mit einer Geste deutete Lupin zum Schloss aus dessen Tor jetzt Schüler strömten und sich über die Wege und Wiesen verteilten. Der Unterricht war offensichtlich beendet. "Ich werde mich jetzt zurückziehen. Wie ich Ihnen vorhin berichtete, muss ich mich von den Kindern fern halten. Ich wünsche Ihnen noch viel Erfolg bei Ihrer Suche." Der alte Mann deutete eine Verbeugung an und schlurfte zur Hütte zurück. Luna kam es vor, dass Lupin noch gebeugter ging als vor einer viertel Stunde.
Der 5. Tag
Die Einladung
Am frühen Vormittag des Folgetages saßen erneut die besten Reporter des 'Klitterers' zusammen, um die Themen der neuen Ausgabe der Wochenzeitung zu besprechen.
Luna berichtete von dem, was sie in Hogwarts gehört und gesehen hatte und gab eine Zusammenfassung ihres Gespräches mit Lupin und dem Hauselfen. Um den anderen Zeit zu geben, das Gehörte für sich zu verarbeiten, schwieg sie zunächst. Schließlich beugte sich Luna vor und zog eine Mappe zu sich heran. "Also gut, Leute, lasst uns eine Zeitung machen. Starkey", wandte sie sich an einen von ihnen, "hast du über Stans Verhaftung mehr herausgefunden? Anklageverfahren? Verurteilung? Revision? Begnadigung?", wollte sie wissen.
"Über offizielle Wege ist nichts zu machen. Da läuft man gegen eine Wand des Schweigens. Einige haben nicht einmal eine Ahnung, dass es einen Stan Shunpike überhaupt gibt.
Aber wenn das, was ich bisher herausgefunden habe, auch nur annähernd stimmt, dann ist das ein echt fettes Drachenei, was da gelegt wurde. Bisher decken sich meine Informationen mit denen, die du schon aus Askaban mitgebracht hast."
"Wir brauchen aber mehr als nur die Aussagen eines Inhaftierten. Wir brauchen Zeugen und Dokumente."
"Kriegst du, Luna, in jedem Fall. Ich bleibe dran! In ein oder zwei Tagen habe ich etwas für dich."
"Colin?", fragte Luna und schaute zu dem Blondschopf hinüber. "Was hast du?"
"Du bekommst bald deine Infos, vor allem von diesem Ministeriumsheini Pankratius, der Stan Shunpike nach Askaban geschickt hat. Scheint ein echt mieser Typ zu sein. Er hat während des Krieges quasi vor jeder Kamera posiert, um sich wichtig zu machen. Ich konnte ein wenig im Archiv des 'Tagespropheten' stöbern und die Interviews, die der gegeben hat ... also ein Fanatiker wie er im Buche steht. Wenn du mich fragst, ist das ein abgebrochener Zwerg mit Größenwahn. Hat sogar mal versucht Minister zu werden."
"Dranbleiben Colin."
"Übrigens rühmt sich dieser Pankratius Snape schon früher einmal dingfest gemacht zu haben." Der Blondschopf hob den Finger, bevor Luna etwas erwidern konnte. "Ich weiß, du bekommst die Zusammenfassung noch auf den Tisch."
"Andere Probleme?"
"Seit du in Askaban warst, kommen verstärkt Heuler in die Redaktion und auch Drohbriefe", bemerkte jemand, "Da sind wohl einige Leute nervös geworden."
"Anonyme Post?"
"Sicher!"
"Werft die Heuler in den schalldichten Raum, den wir dafür haben und die Drohungen ins Feuer. Sonst noch etwas? - Nicht? - Also gut, Leute: An die Arbeit! In zwei Tagen muss die Zeitung raus."
"Und was machst du in der Zwischenzeit?", fragte Starkey mit einem neugierigen Blick.
"Ich werde mich hoffentlich bald mit einem Drachen treffen! Claire versucht noch den Kontakt herzustellen", sagte Luna ernst. Sie wedelte mit den Händen "Los raus jetzt, ich habe zu tun!" Mit diesen Worten zog sich Luna den Stapel mit Post und Artikeln ihrer Mitarbeiter zu sich heran, der in den letzten Tagen liegengeblieben war. Mit der nötigen Konzentration vertiefte sie sich darin.
Am Abend verabschiedete sich Lunas Sekretärin. Sie legte ihrer Chefin noch einen Brief auf den Tisch. "Der kam gerade per BSE. Da hat es wohl einer sehr eilig."
"Danke, Claire!" Luna nahm den Umschlag und schaute auf den Absender. Wer konnte sich heute noch eine 'Besonders Schnelle Eule' leisten? Sie erkannte das kunstvolle Siegel mit dem verschlungenen 'M' wieder - Malfoy.
Luna sah auf. Claire stand noch an der Tür, den spitzen Hut zurechtrückend, der ihre wirre Frisur nur ungenügend verbarg. "Sie haben Mister Malfoy erreichen können?", fragte Luna.
"Nicht direkt!", Claire warf sich den Umhang über. "Ich habe einfach eine Eule losgeschickt und um einen Termin gebeten. Das war doch in Ihrem Sinne, oder?"
"Ja, perfekt wie immer!", nickte Luna. "Einen schönen Abend noch!"
"Ihnen auch!"
Luna wartete noch, bis ihre Sekretärin das Büro verlassen hatte, dann öffnete sie den Brief. Er enthielt nicht viele Worte. Genauer gesagt enthielt er nicht einmal einen richtigen Satz: 'Heute Abend, 22.00 Uhr! - D.M.'
Darunter war nur noch die Anschrift vermerkt.
Dracos Malfoys Geschichte
Die große Apartmentwohnung lag mitten in Edinburgh, mit einem Panoramablick zum alten Schloss. Die Räumlichkeiten schauten aus, wie von einem Innenarchitekten eingerichtet, wobei die vorherrschende Farbe Weiß war, lediglich von einigen sehr genau kalkulierten Details in Grün unterbrochen. Als Luna Draco Malfoys Einladung folgte, hatte sie mit allem möglichem gerechnet, aber nicht mit einer modern eingerichteten Wohnung, die aus einem Muggelprospekt hätte stammen können. Sie fragte sich, ob Malfoy dieses Apartment nur für 'offizielle' Anlässe nutzte, oder ob er auch darin wohnte.
Ein verschmitztes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Die Neugier der Reporterin kam wieder zum Vorschein. Wahrscheinlich gab es hier irgendwo ein Zimmer, das wohl eher ihrer Vorstellung von einem Draco Malfoy als Junggeselle entsprach - chaotisch und verschwenderisch luxuriös eingerichtet. Nicht, dass diese weißen Möbel nicht verdammt teuer gewesen wären, aber sie passten nicht zu dem, was Luna von Draco Malfoy, einem der reichsten Zauberer Englands, erwartet hatte.
Doch was hätte sie erwarten sollen? Seit der Schule gab es keine Kontakte mit dem ehemaligen Slytherin mehr und auch in Hogwarts beschränkten sich ihre Begegnungen nur auf Anfeindungen, die der bevorstehende Krieg mit sich brachte.
Im Grunde wusste sie nichts über Malfoy und das war beunruhigend genug für Luna. Alles, was sie in der letzten Zeit über ihn herausgefunden hatte, und das war gewiss nicht viel, zeichnete ein sehr widersprüchliches Bild.
Malfoy war vor Ausbruch des Krieges ein Todesser geworden und später Mitglied des 'Ordens des Phönix' gewesen. Er arbeitete für den Orden als Spion in den Reihen von Voldemort, was offiziell nicht bekannt war.
Als Snape Albus Dumbledore tötete, ging Malfoy mit seinem Lehrer. Er verdankte ihm sein Leben, wenn Luna die Worte von Lupin richtig deutete. Dennoch verriet er ihn an die Auroren und verdammte ihn zu einem Leben in einer Zelle in Askaban.
Sie würde die Handlungsgründe der Slytherins nie verstehen.
Lunas Aufmerksamkeit wurde auf ihren Gastgeber gelenkt, der hinter dem modernen Küchentresen stand und zwei Tassen mit Tee füllte. Mit einem charmanten Lächeln - oh ja, Draco Malfoy konnte in der Tat charmant sein - trat er aus dem Küchenbereich und stellte die weißen Tassen - natürlich weiß - auf den Tisch.
Für einen Moment herrschte Schweigen zwischen ihnen, während sich kleine Dampfwolken über den Tee kräuselten.
Der Slytherin lehnte sich in den weichen Polstern zurück und schlug die Beine übereinander.
Seine langen blonden Haare trug er offen, der Zauberstab, ein Gehstock mit einem Schlangenkopf als Knauf, lag neben ihm. In den sturmgrauen Augen konnte Luna nichts anderes lesen als milde Neugier. Wie Malfoy so dasaß war er das Ebenbild seines Vaters, der, so konnte sie bei ihren Nachforschungen erfahren, von Lord Voldemort persönlich gefoltert und schließlich getötet wurde.
War das der Grund, warum Malfoy zum Spion wurde? Luna nahm an, dass sie die Wahrheit wohl nie erfahren würde.
Bevor das Schweigen zwischen den beiden ehemaligen Hogwartsschülern peinlich wurde, war es Draco Malfoy, der die Unterhaltung begann.
"Du warst in den letzten Tagen fleißig gewesen, Lovegood", sagte er mit einer leicht schnarrenden Stimme. "Warst viel unterwegs, hast alte Schulkameraden und Lehrer getroffen und viele Besuche gemacht."
Luna stellte ihre Tasse mit Tee langsam auf den Tisch zurück. Sie versuchte ihre Verblüffung zu verbergen, während Draco Orte und Personen nannte.
"Woher weißt du das?", fragte sie schließlich mit einem gesunden Misstrauen in der Stimme.
"Ich habe dich beobachtet. Zuerst, weil ich darum gebeten wurde, dann schon aus reiner Neugierde. - Potter war ein wenig beunruhigt", fügte er mit einem leichten Achselzucken hinzu.
"Harry?", Luna riss ihre Augen auf, "Harry lässt mich beobachten?"
"Du bist ihm wohl zu sehr auf die Füße getreten! - Ich hoffe, du hattest spitze Absätze!" Malfoy schürzte die Lippen und grinste bei dem Gedanken, als er sich die Szene bildlich vorstellte. Das Lächeln verschwand wieder und machte einer nachdenklichen Miene Platz.
"Du hättest nicht weiter in der Vergangenheit herumstochern sollen, Lovegood. Die Suche nach dem Mörder deines Vaters kann ich nachvollziehen, auch wenn das nach über dreißig Jahren völlig irrational und wenig erfolgversprechend ist, aber es gibt Dinge, an denen man nicht rühren sollte."
"Dinge, wie Snape?", fragte sie lauernd.
Hatte Luna es sich nur eingebildet, oder war Malfoy wirklich unmerklich zusammengezuckt? Den Slytherin plagten Gewissensbisse? Sie blieb beharrlich. "Sag schon; geht es in Wirklichkeit um Snape? Hat der 'Klitterer' deswegen diese vielen Heuler bekommen? Wurden deswegen meinen Mitarbeitern und mir so viele Steine in den Weg gelegt? Kommt von daher die Mauer aus Schweigen im Ministerium? Treten plötzlich aus diesem Grund ehemalige Kämpfer des Ordens an mich heran - mit guten Ratschlägen und kleinen versteckten Andeutungen? Lässt mich Harry deswegen von dir beschatten? - Sag schon Malfoy, ist es wegen Snape? Snape, der dir das Leben rettete und dein Hauslehrer und Mentor war und den du verraten hast?"
Lunas Fragen und Beschuldigungen brachen wie eine Salve aus Flüchen über Draco Malfoy herein.
"Genug!" Seine Handbewegung unterstrich den gebieterischen Ton, mit dem Malfoy Luna unterbrach. "Du hast ja keine Ahnung!"
"Dann erkläre es mir!", bat Luna nun in einem ruhigeren Ton.
Der blonde Mann sah sie lange an, schließlich nickte er.
"Also gut, Lovegood, ich werde dir erzählen, was wirklich passiert ist, damals vor über fünfundzwanzig Jahren. Vielleicht .... Vielleicht ist es wirklich an der Zeit, dass jemand die Wahrheit sagt und dem ganzen Lügengespinst ein Ende setzt."
Für einen kurzen Moment schwieg Draco Malfoy. Obwohl sich seine Miene nicht veränderte, kam es Luna doch vor, als würde ihr ehemaliger Mitschüler gedanklich weit in die Vergangenheit zurückreisen.
"Es ist nicht wahr, dass ich bereits zu den Todessern gehörte, als ich damals zum neuen Schuljahr anreiste", begann Malfoy schließlich. "Ich wurde erst Todesser, nachdem der Professor und ich aus Hogwarts flohen. Ein Leben lang hatte mich mein Vater darauf vorbereitet, in den Dienst des Dunklen Lords zu treten, aber erst in jenem Sommer sollte es soweit sein. Ich war noch nicht reif dafür, was mein Versagen auf dem Astro-Turm hinreichend bewiesen hatte, aber es gab keine Alternative mehr für mich.
Der Professor tötete Albus Dumbledore, das ist leider richtig", bestätigte Draco ohne darauf zu achten, wie Luna erschrocken geräuschvoll Luft holte, "aber er tat es nicht kaltblütig, wie Potter es behauptet hatte. Er zögerte und wollte es nicht tun, so verfahren die Situation auch gewesen sein mochte. Fieberhaft war er auf der Suche nach einer Lösung gewesen und hätte sie auch gefunden, wenn der Schuldirektor ihn nicht so eindringlich darum gebeten hätte, es zu tun. Dumbledore wusste, dass seine Zeit gekommen war. Ich meine, er saß da auf dem Boden mit schweren Fluchverletzungen und umringt von Todessern, die sich darum stritten, wer ihn umbringen durfte. An eine Flucht oder gar Rettung war nicht mehr zu denken.
Eigentlich war es meine Aufgabe den alten Mann zu töten, aber ich konnte es einfach nicht tun und als Snape kam, übernahm er es für mich. Er hatte keine Wahl. Erst viel später erfuhr ich von dem Unbrechbaren Schwur, den er meiner Mutter gegeben hatte und der sein Leben mit dem meinen verband."
Für einen Moment schwieg Malfoy. Er wanderte mit den Blicken zum Fenster hinter dem die Lichter der Großstadt glitzerten. Luna sah, wie Dracos Gedanken immer mehr abdrifteten und wartete.
Malfoy schaute sie wieder an. "Während der ganzen Zeit stand Potter unter seinem Tarnmantel und schaute zu. Dumbledore hatte auf ihn einen Klammerzauber geworfen, damit dieser eingebildete Möchtegern-Held sich nicht in die Geschehnisse einmischen konnte. - Verdammt, Potter hat nie etwas kapiert und noch weniger über die Konsequenzen nachgedacht, wenn er kopflos drauflos stürmte. Der Direktor sah das voraus und wusste wohl auch, wie die Dinge sich entwickeln würden. Deswegen traf er diese Vorsichtsmaßnahme. Aber Potter, dieser Idiot, hatte nichts Besseres zu tun, als uns nachzujagen und somit alles noch viel schlimmer zu machen. Ich habe nie verstanden, warum der Professor ihm immer wieder das Leben rettete. In jener Nacht wäre es ihm ein Leichtes gewesen, das Narbengesicht zu töten oder für Voldemort als Geschenk mitzubringen, aber nein, er verschonte ihn einmal mehr."
Malfoy strich sich eine Haarsträne aus dem Gesicht. In seinen sonst undurchdringlichen Zügen zeigte sich Zorn. Seine Wangen hatten einen leichten Rotschimmer angenommen. "Zeigte Potter Dankbarkeit? Oh nein, er begann das Lügenmärchen von dem kaltblütigen Mord zu verbreiten, schmückte es mit der Zeit immer mehr aus und machte daraus seinen ganz persönlichen Rachefeldzug. - Snape, der elende Verräter und Mörder!
Der Tod von Dumbledore gehörte zu einem Notfallplan, den der Professor und der Direktor zusammen ausgearbeitet hatten. Wenn es keinen Ausweg geben sollte, so musste Snape Dumbledore versprechen, durfte er seine Tarnung als Spion unter keinen Umständen aufgeben. Zudem sollte er sich an den Unbrechbaren Schwur halten. So war der Professor gleich doppelt verpflichtet. Ich weiß, dass es so war, denn er hat es mir später erklärt."
Jetzt schwieg Malfoy mit bitterer Miene.
"Gab es niemanden, der von diesem Notfallplan wusste?"
"Nein", schüttelte der blonde Mann den Kopf. "Dumbledore war ein Geheimniskrämer und vertraute, trotz gegenteiliger Meinungen, nicht vielen Leuten. Wahrscheinlich hat er auch deswegen keines der Ordensmitglieder eingeweiht, weil er glaubte, dass sie ihn nur von wichtigen und nötigen Entscheidungen abhalten könnten. Oder er vermutete unter ihnen einen Verräter und er wollte kein Risiko eingehen. Wer kann das heute noch sagen? Aber", fügte Malfoy hinzu, "Dumbledore besprach alles mit seinem Bildnis und hinterließ entsprechende Instruktionen und Erklärungen. Er hat so viel getan wie nur möglich, um den Professor zu schützen."
"Ich habe mit einem Hauselfen gesprochen, der mir sagte, dass er das Porträt gesehen habe, es jedoch später versteckt wurde. Aber ich weiß auch, dass es allgemein heißt, dass es von Dumbledore kein sprechendes Bildnis gibt. Nicht einmal im Zimmer des Schulleiters, wo sonst immer die Porträts der ehemaligen Direktoren hängen."
"Jaaa", dehnte Malfoy das Wort mit seltsamem Unterton aus, "in den Wirren nach den Ereignissen dachte wohl keiner daran, in den Räumen des Direktors danach zu suchen, und plötzlich war es verschwunden. Schließlich brach der Krieg aus. Es gab wichtigere Dinge als die Suche nach einem Bildnis, zumal die Situation doch klar war. Wer hätte je an Potters Aussage gezweifelt?
Aber das Bildnis von Dumbledore gibt es, davon bin ich überzeugt. Dumbledore mochte ein alter Mann gewesen sein, aber er war kein Narr. Sein Bild befindet sich noch immer irgendwo in Hogwarts. Vielleicht nicht einmal sehr gut versteckt, denn es gab bekanntlich keinen Anlass es zu suchen."
"Wer sollte ein Bildnis von Dumbledore verstecken wollen?"
"Denk nach Lovegood! - Das Bildnis hätte die Sache auf dem Astro-Turm bereinigt und gewisse Lügenmärchen enttarnt."
"Harry? - Nein!"
"Ich glaube, selbst Dumbledore ahnte nicht, wie sehr das Narbengesicht den Professor hasste."
"Nenn Harry nicht immer Narbengesicht!", Luna stellte die Tasse mit Tee auf den Tisch und gestikulierte wild. "Deine Vorwürfe klingen absurd! Harry mag den Professor zwar hassen, aber doch nicht so, dass er ... Nein!", kam es entschieden aus ihrem Mund. "Auf keinen Fall!" Mit finsterem Blick betrachtete sie ihren Gastgeber, der ihren Gefühlsausbruch gelassen hinnahm.
Luna sah Malfoy herausfordernd an, das lange Haar mit einer heftigen Kopfbewegung nach hinten werfend. "Und wie passt du in das Bild, Malfoy? Immerhin hättest du doch die Angaben von Harry bestätigen oder abstreiten können! Warum bist du nicht vor Gericht erschienen, als dein Mentor dich am meisten brauchte?"
Jetzt hob Malfoy den Zeigefinger: "Ah, das bringt uns zum nächsten Punkt. - Dazu solltest du jedoch folgendes wissen: Der Professor, inzwischen die Rechte Hand Voldemorts, überzeugte mich, die Seiten zu wechseln. Ich nahm seine Stelle als Spion ein, da er nicht mehr mit dem Orden in Verbindung treten konnte. Er versorgte mich mit etlichen Informationen, mit deren Hilfe viele Leben gerettet werden konnten.
Um meine Tarnung nicht zu gefährden, war ich gezwungen gewesen einige Dinge zu tun, auf die ich keinen Grund habe stolz zu sein. Dinge, die mich unter normalen Umständen nach Askaban gebracht hätten.
Als Snape vor Gericht gestellt wurde, war ich dennoch bereit, für ihn auszusagen, aber der Orden verbot es mir. Ich war inzwischen der Einzige, der noch Zugang zu den Todessern hatte. Sie waren auf mich als Spion angewiesen. Meine Tarnung wollten sie nicht riskieren. So blieb ich der Verhandlung fern. Du darfst auch nicht vergessen, dass ich offiziell ein Todesser war. Sie hätten mir nie geglaubt.
Ich gestehe allerdings, dass ich zu dem Zeitpunkt auch erleichtert war, dem Professor nicht gegenübertreten zu müssen. Die Erinnerung daran beschämt mich heute noch", fügte er reumütig hinzu.
Luna hörte mit wachsender Überraschung zu. Malfoy war ein Spion des Ordens gewesen, so wie Snape auch? Obwohl sie von verschiedenen Seiten davon gehört hatte, fiel es ihr noch immer schwer, genau das zu glauben.
Malfoy legte seine Beine elegant übereinander. Die Hände lagen locker auf dem Knie. An einem der Finger trug er den schweren Siegelring seiner Familie. Eine durch und durch aristokratische Erscheinung. Luna nahm das alles nur unbewusst war.
"Wie ich schon sagte", fuhr ihr Gegenüber in den üblichen neutralen Ton zurückfallend fort, "stammten die Informationen, wie Namen, Orte und geplanten Anschläge, zum größten Teil von Snape, der Voldemorts absolutes Vertrauen besaß. Eine seiner letzten Informationen betraf die Residenz des Lords, nach der die Auroren schon so lange suchten. Mit dem Wissen, wo sich Voldemort aufhielt, waren die Auroren in der Lage, zu einem alles entscheidenden Schlag auszuholen, der auch Snape vernichten konnte.
Das Ministerium wollte kein Risiko eingehen. Es war geplant, die Residenz des Lords einfach mit einem mächtigen Zauber in die Luft zu jagen. Es hätte keine Überlebenden gegeben - weder bei den Todessern, noch bei den in der Residenz festgehaltenen Gefangenen. Das Ministerium war verzweifelt genug, auf das Leben von Unschuldigen keine Rücksicht mehr zu nehmen. - Diese Praxis hatte sich dann leider bis nach dem Krieg fortgesetzt. - Wie auch immer, ich musste schnell handeln, um den Professor zu warnen. Deswegen schickte ich ihm eine Nachricht, mit der Bitte mich umgehend zu treffen. Ich wollte ihn mit Hilfe einiger Verbindungsmänner im Ausland in Sicherheit bringen. Würde die Aktion der Auroren schief gehen, dürfte ihn nicht nur das Ministerium weiter jagen, sondern auch Voldemorts Gefolgsleute. Snape war Geheimnisträger und einer der ganz wenigen Auserwählten, der genau wusste, wo sich die Residenz des Lords befand.
Die Todesser können durchaus Eins und Eins zusammenzählen.
In aller Eile veranlasste ich das Nötigste und ließ reichlich Bestechungsgelder fließen."
Hier stockte Malfoy. Seine Hände ballten sich zu Fäusten und seine Augen flackerten vor Zorn. "Der Professor vertraute mir. Wir standen auf derselben Seite, wenn es für ihn auch viel schwieriger war als für mich und er zuweilen blutige Kompromisse eingehen musste.
In der ganzen hektischen Vorbereitung bemerkte ich nicht, was sich hinter meinem Rücken im Orden abspielte.
Wie konnte ich ahnen, dass der Widerstand seine eigenen Leute verriet? Als ich zum vereinbarten Treffpunkt kam und auf den Professor wartete, waren die Auroren schon da und hielten sich verborgen."
Die Bilder jenes verhängnisvollen Abends hatten sich fest in Dracos Gedächtnis eingebrannt. "Es war ein schöner Sonnenuntergang gewesen und die Luft mild und klar. Vom Meer säuselte der Wind und es roch nach Algen und Tang. Ein Segler war abseits von Dover vor Anker gegangen und sollte den Professor über den Kanal bringen. Ich hielt es für besser, bei Snapes Flucht gänzlich auf Magie zu verzichten, um es dem Ministerium - und auch den Todessern - bei einer eventuellen Verfolgung so schwer wie möglich zu machen.
Der Professor brauchte nur noch in das bereitstehende kleine Ruderboot zu steigen, welches ihm zum Schiff bringen sollte, und alles wäre gut gegangen.
Doch nichts ging gut. Kaum war der Professor am Strand aufgetaucht, war das bekannte 'Plop' zu vernehmen und Auroren erschienen überall um uns herum. Einige errichteten ein Antiapparationsschild, während die anderen die Spitzen ihrer Zauberstäbe auf Snape richteten.
Der Strand bot keine Deckung und das Boot blieb unerreichbar.
Der Professor wusste, wann er verloren hatte. Er ließ seinen Zauberstab in den Sand fallen.
Ich spürte noch heute den ungläubigen Blick des Professors auf mich gerichtet und seine Augen, in denen sich die Enttäuschung wiederspiegelte, die er wegen des vermeintlichen Verrates empfunden haben musste.
Ich stand einfach nur da, völlig von den Ereignissen überrascht und unfähig irgendwie einzuschreiten. Ich schaute nur zu, wie sie ihn mit magischen Fesseln banden", beschrieb Draco die nachfolgende Szene mit bitterem Ton. "Während sie das taten, trat plötzlich Potter auf den Strand und kam mit einem triumphierenden Blick näher. Er bedankte sich überschwänglich bei mir, dass ich es endlich geschafft hätte, Snape auszuliefern."
Mit unverhohlener Wut ballte Malfoy seine Hände zu Fäusten. "Bevor ich überhaupt begriff, was da ablief, hatten die Auroren den Professor bereits mitgenommen.
Du kannst dir nicht vorstellen, Lovegood, was ich in dem Moment empfand. Ich hätte Potter am liebsten einen 'Avada Kedavra' auf den Hals gehetzt, doch das Narbengesicht zog es vor, schnell wieder zu verschwinden."
Schweigen.
"Das Ganze war nur eine Sache von Minuten. Ich hätte nichts mehr tun können und musste mit dem unerträglichen Gedanken leben, dass Snape glaubte, dass ich ihn verraten habe. - Wie konnte ich mich nur so täuschen? Kein Gryffindor vertraut einem Slytherin.
Die Mitglieder des Ordens hielten sich immer auf Distanz zu mir. Ich machte mir nichts daraus, doch dass sie mich auch beobachteten ... Sie stellten es geschickt an.
Die Informationen, die der Professor und ich, unter Einsatz unseres Lebens, für sie beschafften, nahmen sie gerne, aber ansonsten..... Sie haben uns nur benutzt!"
Jetzt hielt das Schweigen in dem Raum länger an und legte sich drückend auf die beiden ehemaligen Schüler von Hogwarts.
"Du sagst, Snape glaubt noch immer, dass du ihn verraten hast? Warum hast du ihn nicht in Askaban besucht und es ihm erklärt?"
Ein bitteres Lächeln huschte über Dracos Gesicht. "Glaubst du, ich hätte es nicht versucht? -
Während des Krieges sagten sie zu mir, dass ich damit meine Position als Spion gefährden würde. Es ginge nicht!
Als Voldemorts Herrschaft endlich endete, versuchte ich es erneut. Dabei nutzte ich alle mir zur Verfügung stehenden Mittel bis hin zu Schmiergeldern. Zudem hoffte ich auf die Unterstützung des Ordens, der ein Interesse haben sollte, die ehemaligen Verbündeten zu entlasten.
Nichts!
Ich schrieb Briefe und schickte unzählige Eulen nach Askaban. Inzwischen ist mir bewusst, dass alle abgefangen wurden. Bis zum heutigen Tag verweigert mir das Ministerium jeden Kontakt zum Professor. Ich muss dir wohl nicht sagen, wem ich das zu verdanken habe?"
Draco Malfoy wandte den Blick von Luna ab und ließ ihn unstet durch den Raum wandern. "Wie oft muss Snape in seiner Zelle meinen Namen immer wieder laut verflucht haben!", sagte er leise. "Geh du nach Askaban und hilf ihm, wenigstens einen Teil seines Rufes wiederherzustellen. Vielleicht gelingt dir, worin ich versagt habe."
Der 6. Tag
Gefangener Severus Snape
Draco Malfoy hatte Recht: Es war an der Zeit, die Wahrheit herauszufinden. - Die ungeschminkte Wahrheit! Dazu musste Luna endlich mit Severus Snape selbst sprechen können.
Fest entschlossen, sich nicht mehr mit Ausreden der Gefängnisverwaltung abspeisen zu lassen, bestieg sie an diesem kühlen und regnerischen Morgen das Boot zur Gefängnisinsel. Viele Gedanken gingen Luna im Kopf herum und weckten in ihr die widersprüchlichsten Gefühle. Was sie in der Zwischenzeit alles erfahren musste, zeichnete ein völlig anderes Bild von Snape, als das, welches jahrelange Gewohnheiten geprägt hatten.
Über die Zeit entstand in der Öffentlichkeit das Zerrbild des grausamen Königsmörders. Es war umso einfacher, ihn derart darstellen zu können, da der Mann durch seine schroffe Art und finstere Erscheinung nie beliebt gewesen war. Schüler, die er unterrichtete, unterstrichen nur zu gern seine Ungerechtigkeit und seinen Hang zur Bosheit. Er war zum Sinnbild für das Grausame und Niederträchtige in einem Menschen geworden, zur Schreckgestalt, die Eltern heraufbeschworen, um ihren Kindern zu drohen.
Es kostete Luna ihre ganze Überzeugungskraft und Überredungskunst, bis der Beamte in der Anmeldung weich wurde. Als sie am Ende mit einem Artikel im 'Klitterer' drohte, gab der Mann auf und erklärte sich bereit, Luna zu dem Gefangenen Snape führen zu lassen.
"Ich werde aber wegen Ihres Verhaltens Meldung an meinen Vorgesetzten machen!", grummelte der Beamte als er nach einer der Wachen rief, die Luna hinunter in die Kerker begleiten sollte.
"Das ist keine schlechte Idee", bemerkte Luna mit einem zauberhaften Lächeln. "Ich nehme an, Ihr oberster Chef ist Harry Potter? Dann grüßen Sie ihn schön."
"Für was halten Sie mich?", giftete der Mann. "Bin ich vielleicht Ihre Eule?"
Luna schwieg, lächelte aber noch immer freundlich, was den Mann am Tisch viel mehr ärgerte, als die Hartnäckigkeit dieser Reporterin.
Endlich betrat ein junger Auror das Büro. Es war derselbe, der Luna schon einmal zu den Todessern geführt hatte. Der Schweigsame, wie sie ihn in Gedanken nannte.
"Bringen Sie die Dame zu dem Alten!", befahl der diensthabende Auror. Er betonte das Wort 'Dame' mit einem verächtlichen Unterton.
"Snape?", vergewisserte sich Harrison vorsichtshalber.
"Nein, der Zauberereiminister - natürlich Snape!"
Die Aggression im Zimmer wurde stärker. Um nicht noch mehr angeschnauzt zu werden, öffnete Harrison eilig die Tür und bat die Reporterin ihm zu folgen.
Luna und ihr Begleiter hatten den Raum noch nicht ganz verlassen, da drehte sich der diensthabende Auror zum Kamin um, warf Flohpulver hinein und verlangte eine Verbindung zum Zauberereiministerium. "Leiter der Inneren Sicherheit", sagte er noch immer im aufgebrachten Ton.
Luna kannte den Weg, den ihr schweigsamer Begleiter sie führte: die immer kleiner werdenden Innenhöfe, die dunkler werdenden Gebäude, die immer kälter werdenden Treppen in die Tiefe.
Als sie in der untersten Ebene angekommen war, öffnete Harrison die schwere Verbindungstür und ließ Luna eintreten. Es roch noch immer muffig und der Gang wartete weiterhin auf einen Reinigungszauber.
Der Auror steckte die Fackel in eine der Halterungen neben dem Eingang und wies mit der Hand den Gang hinunter. "Ich gehe voran", sagte er.
"Sie kommen mit?", entgegnete Luna ehrlich überrascht. Beim letzten Mal konnte sie sich allein in diesem Flur bewegen. Damals zeigte ihr Begleiter nicht die geringste Neigung, sie zu begleiten.
"Snape ist ein gefährlicher Mann, auch heute noch", bemerkte Harrison. "Seine gesonderte Zelle befindet sich ganz am Ende des Ganges und ist mehrfach gesichert. Außerdem wollen wir nicht, dass unseren Gästen etwas geschieht."
Luna schaute ihre Begleitung einen Moment lang fragend an. Sie war sich nicht sicher, wie sie die letzte Bemerkung zu verstehen hatte, enthielt sich aber eines Kommentars.
Harrison war bereits weitergegangen. Die magischen Lichter flammten auf, sobald er sie passierte. Luna musste sich beeilen, um ihn einzuholen.
Die Tür, vor der sie schließlich stehen blieben, war magisch verschlossen und gesichert. Ein leichtes Flimmern des Rahmens bestätigte Lunas Vermutung. Harrison hob den Zauberstab und löste die Sperre auf. Luna schaute neugierig über die Schulter des Aurors. Sie erwartete eine ähnliche Zelle zu sehen, wie sie sie bereits kannte. Doch ihr Erstaunen war groß, als sie eine geräumige Kammer vor sich sah. Es war schwer zu sagen, wie groß der Raum wirklich war, da nur das Licht aus dem Gang ihn erhellte. Snape war luxuriöser untergebracht als sie gedacht hatte.
Wie sehr sie sich irrte, bemerkte Luna noch im selben Augenblick und schämte sich später für ihre Gedanken.
Mit einem Schwenker mit dem Zauberstab entflammte ihr Begleiter die Fackeln an den Wänden. Der Raum schälte sich aus der Dunkelheit. Luna entdeckte einen Tisch, der hochkant an der Wand lehnte, daneben Stühle, eine Truhe und ein Waschbecken. Auf der gegenüberliegenden Seite lag ein umgeworfener Hocker vor einer kahlen Wand.
Langsam trat Luna in den Raum. Ihr Blick richtete sich wie von einer inneren Kraft geleitet erst auf den Hocker und dann auf die Wand. Diese war nicht so kahl wie es zuerst den Anschein hatte. Ösen waren überall eingelassen, groß genug, um dicke Stricke hindurchzuziehen. Auch am Fußboden entdeckte sie solche Metallschlaufen - und an der Decke.
Zögerlich ging Luna auf die Wand zu. Sie streckte die Hand danach aus, als müsste sie spüren, was sie bereits unterschwellig ahnte. Plötzlich zog sie die Hand zurück und drehte sich ruckartig zu dem Auror um. "Das ist keine Zelle!"
"Nein", bestätigte Harrison emotionslos, "Das ist der Verhörraum."
"Aber", Lunas Stimme zitterte unmerklich. Ein Schauer lief ihr über den Rücken und ließ sie frösteln. "Aber wozu ein Verhörraum? Die Inhaftierten waren doch bereits verurteilt und sollten hier ihre Strafe absitzen. Das macht doch keinen Sinn!"
"Damals war Krieg. Die Beschaffung von Informationen hatte immer oberste Priorität!", gab Harrison völlig unbeeindruckt zurück. "DAS hier ist Snapes Zelle!" Er tippte mit der Spitze des Zauberstabes mehrfach auf eine Stelle an der Wand und eine getarnte Tür erschien. Von der Tarnung einmal abgesehen, unterschied sie sich nicht im Geringsten von den anderen draußen im Gang.
Bevor der Auror die Entriegelung betätigte, setzte er sich eine sehr dunkle Brille auf. "Hier, die werden Sie brauchen!" Der Mann reichte Luna gleichfalls eine. "Setzen Sie sie auf, bevor ich öffne."
"Danke, ich kann noch recht gut sehen!"
"Aufsetzen!", befahl Harrison nun in einem Ton, der keinen Wiederspruch duldete.
Mit leichtem Protest gehorchte Luna und fühlte sich im selben Moment völlig blind in dem Raum. "Die Brille ist doch viel zu dunkel!"
"Sie werden mir noch dankbar sein. - Ich öffne!"
Gleißendes Licht flutete Luna entgegen, als die Zellentür aufschwang. Instinktiv wich sie einen Schritt zurück und hob schützend eine Hand vor das Gesicht.
Es dauerte eine Weile, bis sich die Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten. Langsam begannen Einzelheiten aus dem Licht aufzutauchen: Zunächst die Gitterstäbe der zweiten Tür, die die eigentliche Zelle vom Nebenraum trennte, dann das Fehlen jeglicher Einrichtungsgegenstände.
Was sie sah, war der nackte Boden, eine Decke und in der Ecke so etwas ähnliches wie eine kleine Schüssel, nicht besser als ein Blechnapf. Die abgestandene Luft roch nach Verzweiflung und Tod.
"Wozu dieses furchtbare grelle Licht?", fragte Luna. Sie erinnerte sich an die Unterbringung der anderen Todesser. Da gab es einen ähnlichen scharfen Lichtstrahl, aber dieser nahm nur einen begrenzten Raum in der Mitte der Zelle ein. Hier jedoch gab es nicht den kleinsten Winkel, in dem man sich hätte zurückziehen können. Keinen Schatten! Keinen Kontrast! Keine Farben!
"Eine Sicherheitsfrage!", gab Harrison zurück. "Es ist eine verzauberte Beleuchtung, welche die magischen Fähigkeiten der Gefangenen, sollten sie noch welche besitzen, unterdrückt. Wenn also ein Gefangener befragt wird, hat er sich in das Licht zu stellen. So wird das Gefahrenpotential erheblich gemindert. Der da", der Mann wies in die Zelle, "war für seine Fähigkeiten bekannt, auch ohne Zauberstab Magie zu praktizieren. Man konnte es sich nicht leisten, ein Risiko einzugehen."
Der Auror klopfte ungeduldig mit seinem Zauberstab gegen das Gitter "Hey, Alter, aufstehen, du hast Besuch!"
Luna starrte in die Zelle. Erst jetzt entdeckte sie, wie sich Etwas, das sie für eine zusammengeknüllte Decke gehalten hatte, rührte und sich langsam auf die Seite drehte. Hände und nackte Füße kamen zum Vorschein, dann ein ausgemergelter Körper.
Nur langsam gelang es Snape, sich aufzurichten. Er brauchte mehrere Versuche, bis er endlich stand. Mit ausgestreckten Armen tastete er sich an der Wand entlang, bis er etwa die Mitte der kleinen Zelle erreicht hatte. Hier blieb er stehen und verharrte mit gesenktem Kopf in Schweigen.
"Na ja", zuckte Harrison mit den Schultern, "sehr gesprächig ist er nicht gerade! - War er noch nie!", fügte er mit gehässigem Unterton hinzu. "Nicht wahr, Alter!"
"Aufhören", protestierte Luna. "Was soll das?", empörte sie sich.
Dieses Mal schaute sie der junge Mann verwirrt an. "Haben Sie etwa Mitleid mit einem Mörder? Mit einem, der den großen Albus Dumbledore kaltblütig getötet hatte?", wollte er jetzt mit provozierendem Ton wissen, das Kinn angriffslustig vorgestreckt. Er deutete auf Snape. "Der da ist einer der schlimmsten Verbrecher der Zaubererwelt. Wenn es nach mir ginge, könnte der meinetwegen verrecken!"
"Sie reden, als ob Sie dabei gewesen wären und sind doch viel zu jung dafür. Maßen Sie sich also kein Urteil über andere an!"
"Der ist nicht besser als ein Tier! - Mörder!"
"Er mag ein Verbrecher und Mörder sein, aber er ist trotz allem ein Mensch! Man sollte ihn auch so behandeln, sonst wären wir wohl kaum besser als Voldemort und seine Anhänger!"
Luna war über sich selbst erstaunt, dass sie so heftig Partei ergriff. Dabei konnte es sein, dass Snape es war, der ihren Vater getötet hatte. Doch die Umstände, unter denen sie ihren ehemaligen Lehrer begegnete, erzürnten sie so sehr, dass alle anderen Gedanken dahinter zurücktraten. Es war einfach nicht richtig, was sie hier miterleben musste.
Harrison schnaubte verächtlich und murmelte halblaut etwas, das Luna durchaus verstehen sollte. "Todesserliebchen!"
Luna verzichtete auf einen Kommentar. Sie schob Harrison einfach beiseite und wandte sich stattdessen dem Gefangenen zu.
"Guten Tag, Professor Snape!", sagte sie und wartete auf eine Antwort.
Der Gefangene schwieg, den Blick auf den Boden gerichtet.
"Erkennen Sie mich? Ich bin Luna Lovegood. Ich war eine Ihrer Schülerinnen."
Nichts deutete darauf hin, dass Snape mit dieser Information etwas anfangen konnte.
"Ich habe in letzter Zeit viele ehemalige Freunde und Bekannte aufgesucht, weil ich noch immer nach dem Mörder meines Vaters suche. Dabei bin ich auch Leuten begegnet, die mir von einer seltsamen Geschichte berichten, einer Geschichte von einem sehr tapferen Mann, den seine Freunde scheinbar im Stich gelassen haben."
Snape stand da, gebeugt, das strähnige, graue Haar vor dem Gesicht. Für Luna war es schwer zu sagen, ob er überhaupt zuhörte, doch sie sprach weiter. "Zunächst wollte ich die Geschichte nicht glauben, doch die Beweise sprachen für sich. Professor, Sie sind nicht allein. Da draußen gibt es noch Menschen, die sich um Sie sorgen, denen Ihr Schicksal nicht gleichgültig ist."
Luna stand an der Gittertür, die Hände fest um die Stäbe gelegt und wartete.
Nichts.
Snape behielt den Blick auf den Boden geheftet und schwieg.
Sie musste etwas anderes versuchen, um den Professor wach zu rütteln. "Es heißt, Sie haben viele Entscheidungen über Leben und Tod getroffen. Fällten Sie auch das Urteil über meinen Vater? Bitte, verraten Sie es mir, haben Sie mit seinem Tod zu tun, oder wissen Sie, wer es war? - Sind Sie sein Mörder?", schrie Luna den Mann schließlich an.
Keine Reaktion.
"Bitte!", fügte sie leise hinzu.
Harrison trat wieder näher. "Das bringt nichts!", sagte er in milderem Ton. "Der Alte ist während der Jahre der Einzelhaft verrückt geworden und lebt in seiner eigenen Welt. Manchmal erkennt er seine Umgebung, manchmal nicht. Gehen wir!"
"Nein, warten Sie", wehrte Luna ab. Sie drehte sich zu dem Auror um. "Vielleicht braucht er nur etwas mehr Zeit!"
"Lassen Sie ihn doch in seiner Welt. Es ist das Einzige was er noch hat. Sehen Sie doch, wie er am ganzen Leibe zittert. Das ist alles zu viel für ihn. Er ist krank!"
Luna drehte sich zu Snape zurück. Jetzt fiel auch ihr das Zittern auf. Und es nahm zu.
Der Gefangene schwankt plötzlich. Bevor sie etwas unternehmen konnte, verlor Snape das Gleichgewicht. Er stieß zunächst mit der Schulter gegen die Wand und stürzte dann zu Boden. Ein leises Stöhnen war zu vernehmen, als der Körper unsanft aufschlug. Dann wieder dieses Schweigen.
"Bei Merlin", schrie Luna erschrocken auf, "so tun Sie doch etwas! Helfen Sie ihm! Holen Sie einen Arzt!"
"Ich darf die Zelle nicht betreten!", sagte Harrison, "Und einen Arzt haben wir hier unten schon lange nicht mehr."
Luna schaute unentwegt auf die am Boden liegende Gestalt. Die Zeit verging, in der die Frau hilflos auf den Mann in der Zelle starrte, zur Untätigkeit verdammt. Dann ...
Snape regte sich. Er brachte sich in eine halb liegende Position, wobei er den Oberkörper mit den Händen mühevoll abstützte. Das Haar verdeckte noch immer das Gesicht und verbarg seine Züge.
"Lassen Sie uns gehen!", versuchte der Auror die Frau zu überreden. Doch Luna schüttelte nur den Kopf. Sie deutete auf den Gefangenen. "Was ist das?", wollte sie mit von Entsetzen gefärbter Stimme wissen. Snape lag dicht vor der Gittertür, so nah, dass Luna ihn berühren konnte, wenn sie nur die Arme ausstrecken würde. Ihre Aufmerksamkeit hatte sich auf seine Hände gerichtet.
"Was ist das?", wiederholte sie nun eindringlicher die Frage.
Snapes Hände, die einst mit Präzision und unendlichem Feingefühl Zutaten abwogen, zerkleinerten und in den Kessel taten, waren kaum noch als solche zu erkennen.
Erinnerungen aus der Schulzeit tauchten auf.
Luna sah den Professor an dem Kessel stehen und wie er sich Unterrichtsstunde für Unterrichtsstunde mit unendlicher Geduld dem Brauen der Tränke hingab, Geduld, die ihm bei seinen Schülern allerdings fehlte.
Seine Hände konnten aus wenigen Zutaten einen Zaubertrank von unerreichbarer Wirkung erschaffen. Sie waren ihm unerlässliche Werkzeuge. Der Professor mochte vielleicht sonst nicht viel auf sein Aussehen geben, aber seine schmalen feingliedrigen Hände waren immer gepflegt. Einmal mehr hörte sie ihn in ihrer Erinnerung sagen, dass die Magie eines Zaubertranks aus den Händen desjenigen käme, der den Trank herstellt. Die magischen Fähigkeiten des Zauberers lassen den Trank erst seine Wirkung entfalten. Wenn das nicht so wäre, könnte jeder Squib und jeder Muggel Zaubertränke brauen.
Luna unterdrückte aufkommende Tränen voller Mitleid, als sie wieder auf diese Hände schaute. Jetzt waren sie nur noch entstellte Glieder, nicht besser als Klauen und kaum dazu geeignet, jemals wieder einen Trank zu brauen. Um festzustellen, dass seine Finger früher mehrfach gebrochen worden waren, musste man keine Medi-Hexe sein, auch nicht, um zu erkennen, dass die Hände nie medizinisch versorgt oder wenigstens provisorisch geschient worden waren.
Einen Moment lang war Luna versucht wegzulaufen, um dieses Etwas, was einmal ihr Lehrer gewesen war, nicht mehr sehen zu müssen. Doch dann entschied sie sich ganz bewusst dagegen. Wenn sie die Augen vor dem verschloss, was hier passiert war, stellte sie sich auf eine Stufe mit denen, die das getan hatten.
Langsam ging sie in die Hocke und streckte ihre Arme durch das Gitter, bis sie ihren Lehrer erreichen konnte. Behutsam, um den alten Mann nicht zu erschrecken, nahm sie seine Hand in die ihre und bedeckte sie mit der anderen. Die Hand des Zauberers war eisig kalt. Sie fühlte sich rau und rissig an - und irgendwie auch ... Luna fand kein anders Wort dafür als tot.
Snape zuckte unwillkürlich zusammen und zog die Hand zurück, als hätte er sich verbrannt. Hastig kroch er ein wenig von der Gittertür weg ohne den Blick vom Boden zu nehmen.
Das alles geschah lautlos ohne ein Geräusch zu verursachen.
"Er kriecht wie ein Tier auf der Erde herum", flüsterte Luna. Sie wandte beschämt den Kopf zur Seite. Tränen stiegen erneut in ihr auf und liefen jetzt lautlos über ihre Wangen.
Das grelle Licht in der Zelle begann zu schmerzen. Es blendete ihre Augen trotz der Brille, Sie drehte den Kopf vom Gitter weg. Bunte Punkte flimmerten um sie herum und verschwanden erst, als ihre Pupillen sich wieder normal geweitet hatten.
"Das Licht ist die ganze Zeit an?", fragte sie den Auror hinter sich.
"Ja, sicher!"
"Tag und Nacht?"
"Ich kenne es nicht anders."
"Das ist barbarisch!"
Darauf erhielt Luna keine Antwort.
"Das muss aufhören! - Weiß Ihr Chef eigentlich über den Zustand des Professors bescheid? Weiß er, dass es keinen Heiler für hier unten gibt?"
Dieses Mal schaute Harrison die Frau sonderbar an. "Natürlich weiß er das", sagte er vorsichtig, "Auf sein Geheiß hin wurden die Gelder für die medizinische Versorgung für die Todesser gestrichen."
Luna ließ den Kopf gegen die Gitterstäbe sinken. "Wissen Sie, Mister Harrison, dass es Leute gibt, die sagen, dass sich die Ereignisse in jener Nacht auf den Astronomieturm anders zugetragen haben müssen, als offiziell angenommen und verbreitet wurde?"
"Wie Sie vorhin schon so treffend bemerkt haben: Ich bin zu jung, um darüber mehr zu wissen als das, was die Geschichtsbücher sagen."
"Es gibt Grund, an dieser Version in den Geschichtsbüchern zu zweifeln. Es gab eine Zeit, da arbeitete Professor Snape als Spion für den 'Orden des Phönix'. Er hat vielen Menschen mit dem, was er an Informationen weitergeben konnte, das Leben gerettet. Ich wünschte, er hätte auch meinen Vater retten können."
"Es tut mir Leid!" Der Auror reichte Luna die Hand und half ihr beim Aufstehen. "Lassen Sie uns gehen und den alten Mann in Ruhe!"
"Ich wünschte, er könnte wenigstens begreifen, dass er von Draco Malfoy nicht verraten wurde!"
"Kommen Sie!"
Schon wollte Harrison die Tür zur Zelle schließen, als Luna ihn zurück hielt. Snape schien sich bewegt zu haben.
Der alte Mann hob den Kopf. Die grauen Haare fielen zur Seite und gaben zum ersten Mal den Blick auf das zerfurchte bleiche Gesicht frei. Seine erloschenen Augen irrten zur Gittertür. Luna konnte sehen, dass der Professor etwas sagen wollte, aber es kam kein Wort über seine zitternden Lippen. Schließlich senkte er wieder den Kopf.
Harrison schloss die Außentür, bevor Luna zurück zum Gitter gehen konnte. Sie hatte die Hand vor dem Mund gelegt, um nicht vor Entsetzen zu schreien.
"Haben Sie seine Augen gesehen?"
"Ja, es ist das Licht in der Zelle!"
Die Frau schüttelte den Kopf. "Und Mister Potter weiß davon?"
"Ja!"
Eine tiefe Niedergeschlagenheit überschattete Lunas Züge. Während des Weges zurück an die Oberfläche weinte sie lautlos.
Fragen, die jetzt andere beantworten sollten
Erst am späten Nachmittag kehrte Luna in das Verlagshaus des 'Klitterers' zurück. Sie war, nachdem sie Askaban verlassen hatte, zunächst nach Hause appariert, um dort zu duschen und andere Sachen anzuziehen. Sie hatte sich nach dem Besuch bei Snape elend und moralisch schmutzig gefühlt. Bisher vermied sie es, über das Erlebte gründlicher nachzudenken, aber irgendwann konnte sie es nicht mehr ignorieren.
In Askaban, davon war Luna jetzt überzeugt, saß mit Stan Shunpike mindestens ein Unschuldiger im Gefängnis. Und was Snape angetan wurde, ging weit über das Maß einer angemessenen Strafe hinaus. Das System hatte versagt.
Luna saß an ihrem Schreibtisch im Büro und hielt das Bildnis ihres Vaters in der Hand. Sie seufzte. "Ich wollte deinen Mörder suchen, Papa, und fand ..." Luna stockte, weil ihr die Stimme versagte. "Was hat uns der Sieg über Voldemort gebracht? Frieden?", flüsterte sie leise. Der Krieg hatte sie alle verändert. Waren sie zu dem geworden, was sie einst mit so vielen Opfern bekämpft hatten?
Die Frau stellte das Bildnis wieder auf seinen Platz zurück und ging zum Fenster. Der Nachmittag war trüb und verhangen. Nieselregen ließ Wege und Straßen glänzen. Das Drama in Askaban nicht ahnend, gingen Passanten hastig ihren alltäglichen Geschäften nach. Es dämmerte bereits und die Straßenlaternen flammten eine nach der anderen auf. Aus dem goldenen Oktober war ein trister Herbst geworden.
Luna gab sich noch eine Zeit lang dem Schmerz über das Erlebte hin, bis sie sich selbst ermahnte. Den Mörder ihres Vaters hatte sie nicht finden können, aber sie konnte für Gerechtigkeit sorgen. Der 'Klitterer' würde zum Sprachrohr derer werden, die keine Stimme mehr hatten. Was sie vorhatte, wäre ganz im Sinne ihres Vaters gewesen.
Tief durchatmend drehte sich Luna entschlossen vom Fenster weg. Es wurde Zeit, dass die Hexen und Zauberer über die Zustände in Askaban informiert wurden. Sie sollen auch erfahren, was aus den Werwölfen wurde und wie die Zaubererwelt den Veteranen des Krieges dankte. Der 'Klitterer' hatte eine Aufgabe zu erfüllen.
Entschlossen setzte sich Luna an ihren Platz und begann den ersten Artikel zu schreiben.
Der 7. Tag
Der 'Klitterer'
Am nächsten Tag, und in den folgenden zwei Monaten brachte der 'Klitterer' eine ganze Serie von Artikeln, Berichten und Interviews heraus, die nicht nur die Zustände in Askaban während und unmittelbar nach dem Krieg gegen Voldemort beschrieben, sondern auch die Fragen nach dem humanen Verhalten gegenüber Werwölfen und der Akzeptanz von Hauselfen stellten.
Neben einer Unzahl von Heulern und verfluchten Gegenständen, welche die Redaktion heimsuchten, gab es unter den Lesern des Wochenblattes gleichfalls eine Vielzahl von Zustimmungen. Die Empörung darüber, wie man Veteranen des Krieges wie Remus Lupin behandelte, war groß. Besonders ehemaligen Schüler, die einst von dem Werwolf in Hogwarts unterrichtet worden waren, traten für seine Rechte ein.
Hermine Granger - sie hatte sich schon vor vielen Jahren in die Muggelwelt zurückgezogen - meldete sich zu Wort, als sie erfuhr, auf welche denkbar schlechteste Weise ihre Grundsätze der B.ELFE.R Bewegung umgesetzt worden waren. Sie bombardierte das Ministerium mit Vorschlägen und Initiativen, die den Zaubereiminister schließlich zwangen, den jetzigen rechtlichen Stand der Elfen neu zu überdenken. Um die Sache voranzutreiben half Mrs. Granger den Hauselfen, sich in einem Komitee zu organisieren, um so ihre Forderungen und Rechte besser durchzusetzen. - Sehr zum Leidwesen des Ministeriums, wie einige hämische Stimmen behaupteten.
Besonders viel Staub wirbelte das Schicksal von Stan Shunpike auf, der seit dreißig Jahren, offensichtlich unschuldig und ohne ordentliche Gerichtsverhandlung, in Askaban schmachtete.
Je mehr Details der 'Klitterer' veröffentlichte und so gewisse Machenschaften im Ministerium offen legte, um so mehr wendete sich die öffentliche Meinung gegen Minister und Behörde.
Der Druck wurde am Ende so groß, dass das Verfahren gegen den ehemaligen Busschaffner neu aufgerollt werden musste.
Binnen eines Monats wurde Stan Shunpike aus dem Gefängnis entlassen. Der Zaubereiminister persönlich kam nach Askaban, um Mister Shunpike seine Freiheit zurückzugeben und ihm eine hohe Entschädigungssumme für die fälschliche Inhaftierung zu überreichen.
Mit all diesen Erfolgen hätte Luna zufrieden sein können, doch noch war ihr Ziel nicht erreicht. Was Severus Snape anging, zeigte sich schnell, dass die Hexen und Zauberer seinem Schicksal eher gleichgültig gegenüber standen. Für sie war und blieb er der kaltblütige Mörder von Albus Dumbledore, dem größten Zauberer ihrer Zeit. Auch als Draco Malfoy in einem Interview mit dem 'Klitterer' die wirklichen Ereignisse und Umstände auf dem Astro-Turm in Hogwarts schilderte, blieben die gewünschten Reaktionen aus. Sein Wort, das Wort eines Slytherins, stand gegen das Wort von Harry Potter, des Jungens, der überlebt hatte und jetzt Chef der Inneren Sicherheit im Ministerium war.
Auch, als ehemalige Kampfgefährten wie Madam Sprout, der Auror Kingsley Shacklebolt und Remus Lupin sich zu Wort meldeten und für Snape eintraten, blieb die Meinung über den einstigen Zaubertrankmeister unverändert.
Bis Anfang Dezember sah es ganz so aus, als würde Severus Snape niemals rehabilitiert werden können. Nicht einmal verbesserte Haftbedingungen konnte Luna für den Mann erreichen. Die Bemühungen des 'Klitterers' stießen in dieser Hinsicht auf Unverständnis und Desinteresse.
Alles, was die Zeitung an Verdiensten des Professors veröffentlichte und unanfechtbar belegte, wie Snapes Spionagetätigkeit für den Orden, bei der er jedes Mal sein Leben riskierte oder auch die Tatsache, dass er Harry Potter mehrfach das Leben gerettet hatte, wurden als dessen Eigennutz abgetan.
Was Severus Snape anging, blieb das Ministerium unnachgiebig. Luna war sich sicher, dass hinter dieser sturen Haltung nur ein Mann stecken konnte: Harry Potter. Spätestens jetzt wusste sie, dass Draco Malfoy die Wahrheit gesagt hatte. Potters Hass auf seinen ehemaligen Lehrer war so groß geworden, dass er jede Gelegenheit und Machtposition nutzte, um sich an ihm zu rächen.
Kurz vor Weihnachten jedoch änderte sich alles.
Remus Lupin, Neville Longbottom und Tobby hatten heimlich und auf eigene Faust ganz Hogwarts durchstreift. Sie suchten das Porträt von Albus Dumbledore, von dessen Existenz offensichtlich kaum jemand wusste und das auf so sonderbarer Weise kurz nach dem Tod des Schuldirektors verschwunden war.
Sie fanden es eingemauert in den unteren Gängen im Bereich des Slytherinhauses, einem Ort, an dem sie es nun wirklich nicht vermutet hätten.
Kaum war das Porträt seiner jahrelangen Dunkelheit entrissen, brachten sie es zuerst zum 'Klitterer' und dann ins Ministerium. Vor dem versammelten Begnadigungsausschuss und dem Zaubereiminister berichtete das Porträt des berühmten Zauberers über die wirklichen Ereignisse. Seine Aussage, die niemand auch nur im Ansatz anzweifelte, rehabilitierte Severus Snape und sprach ihn von dem Vorwurf des kaltblütigen Mordes frei. Seine Arbeit als Spion für den Orden fand endlich seine, wenn auch verhaltene, Würdigung.
Harry Potter dagegen musste sich einige unangenehme Fragen gefallen lassen. Sein Verhalten gegenüber seinem ehemaligen Professor machte ihn moralisch unglaubwürdig. Bevor es aber darüber zu einer öffentlichen Debatte kommen konnte, bemühte sich das Ministerium um Schadensbegrenzung. Potter zog sich aus der Öffentlichkeit zurück. Er legte sein Amt, wie es offiziell hieß, aus gesundheitlichen Gründen, nieder.
An Snape und Potter schieden sich die Geister, aber durch Dumbledores Porträt ließen sich die Tatsachen nicht mehr verdrängen.
Der Begnadigungsausschuss entschied Anfang Januar, dass Snape für den Tod des Schuldirektors nicht verantwortlich gemacht werden konnte. Für alle anderen Verbrechen deretwegen er verurteilt wurde, galt die Strafe ab sofort als abgegolten. Von einer Entschädigung wegen erlittenen Unrechts, wie im Fall von Stan Shunpike war jedoch nicht die Rede.
Severus Snape, Zaubertrankmeister, ehemaliger Professor in Hogwarts, Mitglied des Phönix-Ordens, Spion und auch Todesser, sowie einstige Rechte Hand des Dunklen Lords wurde begnadigt und formell rehabilitiert.
Frei?
Am 9. Januar 2027, es war auch Snapes 67. Geburtstag, machten sich Luna Lovegood und die ehemalige Schulkrankenschwester, Madam Pomfrey, auf den Weg nach Askaban, um den Professor nicht nur von seiner unverzüglichen Freilassung zu unterrichten, sondern ihn auch in diese Freiheit zu begleiten.
Inzwischen kannte Luna den langen Weg hinunter in den Tiefen von Askaban. Sie kannte die Treppe und das Gefühl, wenn ihre Hände sich haltsuchend an der Wand entlang tasteten und dabei Schlieren auf den Steinen hinterließen.
Genauso gut kannte sie auch den beklemmenden Geruch abgestandener Luft. Sie beschwerte sich aber nicht, denn sie ging diesen Weg zum letzten Mal. Ihr Herz klopfte vor Aufregung, aber auch vor Sorge. Wie würde ihr ehemaliger Professor wohl darauf reagieren, dass er frei war? Es war ein so langer Kampf und voller bürokratischer Mühen gewesen, bevor der Begnadigungsausschuss bereit war, den Fall Severus Snape wieder aufzurollen. Zwei vollen Wochen brauchten die Mitglieder des Ausschusses, um die Untersuchungen abzuschließen und zu einem Ergebnis zu bekommen. Das eingereichte Gnadengesuch wurde schließlich angenommen und gewährt.
Heute wurde ihr ehemaliger Professor endlich aus Askaban entlassen. Konnte es ein besseres Geburtstagsgeschenk für ihn geben?
Ihr letzter Besuch bei Snape war Wochen her. Sie hatte ihm nichts von der Arbeit des Begnadigungsausschusses berichtet, aus Angst, dass die Begnadigung abgelehnt werden könnte. Diese Enttäuschung wollte sie ihm ersparen.
Für Madam Pomfrey war das alles neu und wirkte auf sie bedrückend und einschüchternd. Sie war noch nie zuvor in Askaban gewesen.
"Bei Merlin", flüsterte sie, wobei ihre Stimme zitterte, "hier unten können Menschen überleben?" Sie ging noch vorsichtiger die Stufen der endlos scheinenden Treppe hinab als Luna. Mit ihrem Stock tastete sie sich Stufe für Stufe voran, den Gedanken nicht an den langen Rückweg verschwendend. "Ich weiß, Mrs. Lovegood, Sie haben mir alles sehr genau beschrieben, aber ..." Die Krankenschwester brach mitten im Satz kopfschüttelnd ab.
Harrison, der junge Auror, blieb am nächsten Absatz stehen, um auf die beiden Frauen zu warten. Er hatte inzwischen ein sehr gutes Verhältnis zu Luna Lovegood, auch wenn er nicht alle ihre Ansichten über die Gefangenen teilte.
Um den Frauen besser zu leuchten, hob er die Fackel höher und ließ diese schließlich mit Hilfe eines Zaubers schweben, dann nahm er die Tasche der alten Dame wieder auf und stieg weiter hinab.
Auch Luna trug Gepäck. Sie hatte eine Decke über die Schulter gelegt, damit sie die Hände frei behielt, um sich am Geländer und an der Mauer festhalten zu können.
Endlich waren die drei auf der untersten Ebene angekommen. Harrison schob den Riegel der schweren Tür beiseite und zog sie auf.
Der lange Gang war seit Lunas letztem Besuch endlich gereinigt worden. Auch die Luft roch frischer als früher. Doch das konnte nicht darüber hinwegtäuschen, was sich wirklich hinter den noch immer verschlossenen Türen rechts und links verbarg.
"Es sind so viele!", hörte Luna ihre Begleiterin murmeln. Sie drehte sich nach Madam Pomfrey um, die mitten im Gang stehen geblieben war und sich nach allen Seiten umschaute. Die alte Frau hatte die Hand auf den Mund gelegt, als könnte sie nur so das Grauen in ihr bändigen. Luna konnte sie nur zu gut verstehen.
"Kommen Sie, Poppy." Die jüngere Frau ging die wenigen Schritte zurück, schulterte die Decke auf die andere Seite und hakte sich bei der älteren Dame ein. "Wir müssen bis ans andere Ende des Ganges."
Zum letzten Mal stand Luna vor der Tür hinter der sich der Verhörraum und Snapes Zelle befanden. Sie holte tief Luft, um sich dem zu stellen, was sie dahinter vorfinden würde.
Der Auror öffnete die Tür zum ehemaligen Verhörraum, zog den Tisch von der Wand und stellte die Tasche der Medi-Hexe auf dem Stuhl daneben ab, um die Fackeln an den Wänden zu entzünden.
Alles geschah in bedrückendem Schweigen. Dann ging Harrison mit dem Zauberstab in der Hand zur Wand und ließ die getarnte Tür zur Zelle erscheinen.
Er entriegelte das Schloss und hob den magischen Bann auf, ohne die Tür zu öffnen. Zögernd drehte er sich zu den Frauen um. "Vielleicht ist es besser, wenn ich jetzt gehe?", sagte er unsicher.
"Nein, Mister Harrison, bleiben Sie bitte. Wir werden Hilfe brauchen und ich nehme sie lieber von Ihnen an, als von sonst jemand anderen hier im Gefängnis."
Luna lächelte. Ihre Antipathie gegen den sonst recht schweigsamen Mann hatte sich mit jedem Besuch immer mehr gewandelt, zumal er von Snapes Schicksal nicht ungerührt geblieben war. Die Geschichte des Professors - die wahre Geschichte - ließ ihn den Gefangenen mit anderen Augen sehen.
Der Mann nickte zur Bestätigung. Er zog sich etwas vom Tisch zurück, auf den Luna den Inhalt der Tasche auszuleeren begann. Verbandsmaterial, Heiltränke, Salben und magische Diagnostikhilfen kamen zum Vorschein.
Indessen war die alte Schulkrankenschwester unbemerkt an Snapes Zellentür getreten. Sie öffnete die Tür einen Spalt.
Grelles Licht flutete in den Verhörraum.
Poppy stand wie versteinert vor dem Gitter und blinzelte in die Zelle, die Augen vor dem Licht abschirmend.
Luna zog sie von dort weg und schob die Tür wieder zu. Nach dem gleißenden Licht wirkte der Raum, trotz der Fackeln, völlig Schwarz. Es dauerte etwas, bis sich ihre Augen wieder an das milde Licht gewöhnt hatten.
"Wieso ist es da drinnen immer noch so grell?", schrie Luna voller Wut. "Wozu noch diese sinnlose Quälerei? Er ist doch schon blind!"
Beschwichtigend legte Harrison die Hand auf die Schulter der aufgebrachten Frau. "Es ist die Bauart der Zelle. Das Licht kann nicht geändert werden." Er setzte die dunkle Brille auf. "Wir müssen ihn von dort heraus bringen."
Madam Pomfrey war auf einen der freien Stühle gesunken. "Blind?" Verstohlen tupfte sie mit einem Tuch die Tränen fort. "Keine Angst Kind", sagte sie zu Luna, die herangetreten war und nun besorgt auf die alte Frau schaute, "Keine Angst, ich war nur so..."
"... entsetzt?", vollendete Luna den Satz.
"... erschrocken!", korrigierte Poppy. "Bis eben glaubte ich noch, ich hätte schon alles gesehen. - Bei Merlin, ich dachte, der Krieg wäre längst vorbei!" Die alte Dame atmete schwer, wirkte aber entschlossen.
"Dann holen wir den Professor da endlich raus!", antwortete Luna grimmig. Sie gab der alten Dame die dunkle Brille und setzte ihre gleichfalls auf. "Mister Harrison, öffnen Sie die Zelle."
Wieder brandete grelles Licht in den Verhörraum.
Madam Pomfrey war aufgestanden und an dem Auror vorbei an das Gitter getreten. "Bevor irgendetwas mit Severus geschieht, sehe ich ihn mir genauer an. Machen sie die Gittertür auf und lassen sie mich eintreten, junger Mann."
Das Gitter ging nur schwer auf, als wäre es schon seit Jahren nicht mehr geöffnet worden.
"Und jetzt Ihren Zauberstab", verlangte die Medi-Hexe. Auffordernd hielt sie dem Auror ihre Hand hin.
"Das darf ich nicht, Ma'am."
"Hören Sie genau zu ...", Poppy stand jetzt nur einen Schritt vor dem Mann, der mehr als einen Kopf größer war als sie.
Luna war erstaunt, wie aus der scheinbar gebrechlichen Dame eine sehr gebieterische Medi-Hexe wurde, die sich Autorität zu verschaffen wusste. Hatte sie Madam Pomfrey wirklich für alt und schwach gehalten? Unglaublich! Luna hoffte, dass sie im selben Alter auch noch so rüstig sein würde.
"... Sie geben mir den Zauberstab, damit ich den Professor untersuchen kann. Er hat wahrlich genug gelitten und ich muss das Leiden nicht noch verschlimmern, nur weil ich meinen Zauberstab nicht mitnehmen durfte. Also geben sie mir jetzt Ihren für eine schnelle Diagnose, oder, bei Merlin, Sie lernen mich kennen."
Ob es Poppys energische Aufforderung war, oder die zwingende Einsicht, wusste Luna nicht zu sagen, aber Harrison gab schließlich seinen Zauberstab aus der Hand. "Wenn das jemand mitbekommt, werde ich Schwierigkeiten bekommen. Es ist gegen die Vorschrift!", versuchte sich Harrison zu rechtfertigen. Er machte ein verunsichertes Gesicht.
"Wenn ich noch einmal das Wort 'Vorschrift' höre werde ich meinen medizinischen Eid vergessen, und dem Burschen einen Fluch auf den Hals hetzen, dass ihm ...", brummte die alte Dame vor sich hin. Sie trat in die Zelle zu Snape, der in einer Ecke zusammengerollt am Boden lag. Er hatte die Arme um sich geschlungen und hielt den Kopf fest gegen die Brust gepresst.
Luna beobachtete die Medi-Hexe vom angrenzenden Raum aus. Zwar sagte die alte Frau während ihrer Untersuchung nichts über den physischen Zustand ihres ehemaligen Kollegen, aber Luna konnte sehen, wie sich ihre Miene mehr und mehr versteinerte bis sie fast ausdruckslos wurde.
Die ganze Zeit blieb Snape leblos am Boden liegen ohne eine Reaktion auf das, was in seiner Zelle geschah. Poppy versuchte mit ihm zu reden und zu erklären, was geschehen würde. Dass er frei war, wagte sie aber nicht zu erwähnen, aus Angst, dass der Schock ihn noch mehr schwächen würde. Sie wollte seinen Gesundheitszustand erst stabilisieren, bevor sie ihn mit der neuen Situation konfrontierte.
Schließlich stand die Medi-Hexe wieder auf, wobei ihr der Auror behilflich war. Poppy nahm das Friedensangebot mit einem Kopfnicken an.
"Schaffen wir den Professor aus diesem Loch heraus", sagte sie nur.
"Ich mache das!", bot Harrison an. Er beugte sich zu dem Gefangenen und nahm ihn auf die Arme. Snape schien sich zu versteifen, ließ es jedoch mit sich geschehen.
Der Auror deutete auf eine freie Fläche vor der Wand mit dem umgefallenen Hocker: "Hier werden Sie ihn behandeln können."
Kaum lag Snape auf der von Luna auf dem Boden ausgebreitet Decke, schloss Madam Pomfrey die Tür zu der Zelle. Das grelle Licht versickerte. Erleichtert nahmen alle die dunklen Brillen wieder ab.
Snape bewegte sich plötzlich unruhig. Er versuchte auf die Beine zu kommen, brach aber wieder zusammen, da er in der unvertrauten Umgebung nicht die Wände so vorfand, wie er es kannte. Seine Hände griffen immer wieder ins Leere. Als er dann endlich an der Wand Halt fand, zuckte er merklich zurück, verlor das Gleichgewicht und stieß dabei gegen den Hocker.
Luna konnte sehen, wie Snape den fremden Gegenstand abtastete und erneut zurückwich, das Gesicht voller Entsetzen.
"Er erinnert sich!", sagte Luna leise und voller Kummer. Sie eilte auf den Mann am Boden zu und sprach sanft auf ihn ein.
"Wer würde das nicht!", erwiderte Harrison mit derselben gedämpften Stimme. "Hier haben sie ihn bis zum Ende des Krieges immer wieder verhört, während er auf diesem Hocker sitzen musste oder an die Wand gekettet war."
Snape wehrte sich gegen die Berührung, als Luna ihn hielt, damit er nicht noch einmal das Gleichgewicht verlor. Seine Kraft reichte aber nicht aus, um ernsthaften Widerstand zu leisten. Schließlich ließ sich Snape auf den Boden sinken.
"Ab hier", verkündete Madam Pomfrey mit Bestimmtheit, "übernehme ich. Sie sollten mich jetzt allein lassen." Poppy übernahm das Kommando, legte sich eine blütenweiße Schürze um und setzte ihr Häubchen auf, unter das sie das graue Haar steckte. "Ich sagte, Sie sollen gehen!" Sie deutete mit der Hand zum Ausgang.
Mit einem letzten Blick auf den Professor gingen Luna und ihr Begleiter vor die Tür.
Luna wusste ihren ehemaligen Professor jetzt endlich in guten und erfahrenen Händen. Trotzdem fiel es ihr schwer zu warten.
Die Zeit dehnte sich zäh wie Brei. Luna ging einige Schritte den langen Gang entlang. Harrison verharrte neben der Tür.
Eigentlich wollte sie gern etwas Nützliches tun, aber ihr mangelte es an Konzentration. Immer und immer wieder schaute sie zum Eingang.
Lange war es ruhig gewesen, fast gespenstig. Als Luna plötzlich einen Schrei dahinter vernahm war sie so erschrocken, dass sie zurück zum Verhörraum lief. Harrison fing sie ab und schüttelte den Kopf. "Nicht", flüsterte er leise.
Ihr erster Instinkt sagte ihr, sie solle die Tür öffnen, aber stattdessen zwang sie sich, der Vernunft zu gehorchen.
Der Schrei war in ein leises Gestammel übergegangen und dann verstummt.
Sie wünschte sich sehr weit von hier weg, da sie offensichtlich nicht helfen konnte.
Als der nächste Schrei dumpf durch die Tür drang, zuckte Luna nicht mehr zusammen.
Sie verfiel in endloses Brüten und schreckte hoch, als die Tür endlich aufging und Madam Pomfrey heraustrat. Ihr war die Erschöpfung anzusehen. Das Häubchen war ein wenig schief und einige Strähnen des grauen Haares waren darunter hervorgerutscht und ihr auf die Schulter gefallen. Ihre Schürze war nun zerknittert und schmutzig, die Ärmel des Kleides hochgekrempelt. Luna glaubte bei einigen Flecken sogar Blut zu erkennen, war sich jedoch nicht sicher.
"Und?", fragte sie erwartungsvoll.
"Ich habe den Professor so gut wie möglich behandelt und seinen Zustand stabilisiert. Wir müssen aber noch warten, bis die Medizin ganz anschlägt. Sobald das der Fall ist, bringen wir ihn sofort nach St. Mungo."
"Und wird er wieder gesund werden?"
"Ich weiß es nicht", log Madam Pomfrey, die während ihrer Untersuchung erkannt hatte, dass ihr ehemaliger Kollege nicht mehr lange leben würde. Traurig schüttelte sie den Kopf und ging wieder hinein, während für Luna und den Auror erneut eine Zeit des Wartens begann.
Etwa eine halbe Stunde später rief die ehemalige Schulschwester die beiden zurück in den Verhörraum.
Der Professor saß jetzt auf einem Stuhl, der Körper war gegen die Lehne gesunken, als könnte er sich nicht aus eigener Kraft aufrecht halten. Die Hände, in Bandagen gewickelt, ruhten auf seinen Knien.
Insgesamt wirkte Snape ruhiger.
"Severus", sagte Madam Pomfrey. Sie trat näher an ihren Patienten heran ohne ihn zu berühren. "Severus, Mrs. Lovegood hat noch eine Neuigkeit für Sie."
Mit der Hand winkte die Medi-Hexe Luna heran. "Kommen Sie näher, aber berühren Sie ihn nicht. Er kann Körperkontakt nur schwer ertragen."
Luna setzte sich auf den Stuhl, dem Mann gegenüber und erzählte ihm zum ersten Mal, dass er ab sofort frei war und wie es dazu gekommen war.
"Auf dem Festland warten Freunde von Ihnen!", schloss sie ihre Erklärung. "Sie sind frei!"
Snape hob langsam den Kopf. Seine erblindeten Augen starrten durch Luna hindurch. Allmählich schien sich etwas in ihm zu verändern. Ein milder Hoffnungsschimmer erhellte das bleiche Gesicht. Seine Lippen zitterten und formten langsam ein Wort. Verwirrt fragte der Professor mit gebrochener Stimme: "Frei?"
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