Herbstzeitlose

 

 

Zurück zu Kurz-
geschichten

 

Zurück zur
Startseite

 

Autorin: Smilla


Disclaimer: hat sich Harry Potter und Severus Snape und deren Welt gehören JK Rowling und .

Meine erste Story nach langer Zeit wieder, leider unter Zeitdruck geschrieben. Aber es war mir wichtig, sie VOR dem Erscheinen von Band 7 fertigzustellen. Es ist sozusagen "meine Version eines 7. Bandes" - bevor wir alle wissen, wie es wirklich ausgeht.
In unendlichem Respekt vor J.K.Rowling, die so viel besser schreibt als wir alle zusammen und die uns dieses unbezahlbare, siebenbändige Geschenk gemacht hat!
(Und sollte irgendeine meiner Theorien sich als richtig erweisen, will ich nicht, dass man mir nachsagen kann, ich hätte bloß abgekupfert. ;-) Die Webmasterin kann euch bestätigen, dass meine Story gerade noch vor dem 21. Juli bei ihr eingegangen ist.)


Smilla



Herbstzeitlose


"Es wird Herbst." Sanft strichen ihre Finger durch sein zerzaustes Haar. Ihr Blick schweifte über die Ländereien von Hogwarts. Alles war anders geworden, alles. Nicht nur sie hatten sich verändert, waren älter geworden... Reifer? Ihre ganze Welt war eingestürzt und sie selbst waren viel schneller erwachsen geworden, als gut für sie sein konnte. Sie waren wie Früchte, die ein verfrühter, strenger Frost überrascht hat: nicht reif, sondern erfroren. Klein und hart, ohne Süße.

"Herbst?" fragte er ohne jedes Interesse zurück. Was spielte es noch für eine Rolle, welche Jahreszeit herrschte? Er empfand es geradezu als eine Beleidigung gegenüber dem Toten, dass es überhaupt noch etwas so Normales, Banales wie Jahreszeiten gab. Dumbledore war gestorben und mit ihm die ganze Welt von Hogwarts. Bald würde ihr die gesamte Zaubererwelt in die Hölle folgen, jetzt wo niemand mehr Voldemort Einhalt gebot. Ja, es war wirklich taktlos, dass manche weitermachten, als wäre nichts geschehen: Jahreszeiten, einfach so. Oder diese Frau...

Hermines Blick folgte Harrys hasserfülltem, hinab zu der Dame, die energisch auf das Schloss zuschritt. Von hier oben, vom Astronomieturm aus, wirkte sie winzig klein. Aber sie spielte sich auf wie die Allergrößte. Hatte einfach den Direktorposten übernommen, McGonagall verjagt, die letzte feste Größe von Hogwarts, - seit Dumbledore tot war, Snape ein Verräter und Mörder, so viele Schüler nach den Ferien einfach nicht mehr aufgetaucht, aus Angst, so viele Bekannte tot, verletzt oder verschollen. McGonagall verjagt! Zur Erholung geschickt, wie dieses Weib es nannte, zur Reha-Kur. Angeblich würde sie wiederkehren. Wer's glaubte... Vielleicht würde sie aber auch in Rente gehen. Ach?

"Die wird diesen Posten nie mehr räumen", prophezeite Harry düster, "sie ist die nächste Umbridge, vom Ministerium geschickt, um jeden Widerstand niederzuschlagen. Nur mit sanfterer Hand und einem hübscheren Lächeln." Hermine schaute Cassiopeia Calyx hinterher, die gerade außer Sichtweite verschwand. Nachdenklich wandte sie ein: "Sie wirkt nett." Harry schnaubte: "Nett!" Die Ereignisse der letzten Zeit hatten diesen Begriff aus seinem Wortschatz gestrichen. Alle, die jemals "nett" gewesen waren, hatten entweder vorzeitig ins Gras gebissen oder sich als falsche Fuffziger entpuppt. "Alles Lüge", sagte Harry leise, "ich traue niemandem mehr, der nett ist. Alles miese Verräter! Nimm Snape..."

"Snape war niemals nett", widersprach Hermine.

"Das ist allerdings wahr", knurrte Harry, und da war wieder dieser kalte Hass in seiner Stimme und seinem Blick.

Hermine schauderte insgeheim. "Mir wird kalt hier oben", flüsterte sie, ohne die Augen von den Zornesfalten auf seinem jungen Gesicht zu lassen, "lass uns hinunter gehen, zu Ron." Er würde schon warten. Früher hätte sie Bedenken gehabt, dass er eifersüchtig werden könnte, wenn sie mit Harry allein hier oben wäre, ihm sogar durchs Haar gestrichen hätte. Aber auch Ron war nicht mehr der Alte. Er hatte sein Lachen verloren und damit den größten Teil von sich. Sie alle hatten viele Gefühle eingebüßt. Keiner von ihnen hatte mehr Liebe im Sinn oder Eifersucht. Sie hatten nur noch ihre Freundschaft und wärmten sich alle drei gegenseitig, wie elternlose junge Hunde, die man auf einer kalten Straße ausgesetzt hat.



Kalter Wind und Äste peitschten den Flüchtigen auf seinem hastigen Weg durch den Verbotenen Wald. Immer wieder blieb sein schwarzer Umhang an dornigen Büschen hängen. Er war schon voller Löcher und die blasse Haut des Mannes voller Schrammen. Seine Wangen waren hohl, er hatte seit Tagen nichts gegessen. Aber das Unheimlichste an ihm waren seine leeren Augen. Man hatte immer von ihnen behauptet, sie seien schwarze Löcher, gefährlich leer. Doch wer sie sich die Mühe gemacht hätte, richtig hinzusehen, hätte viel entdecken können: Leid, Sehnsucht. Aber jetzt...

Severus Snape stolperte weiter. Wohin eigentlich? Er war sich völlig bewusst, dass er in die falsche Richtung lief. Nichts Neues in seinem Leben. Es gab aber auch kein "Wohin" mehr. Albus war tot. Er hatte ihn getötet! Und doch lief er zurück nach Hogwarts, wo niemand mehr liebevoll auf ihn warten würde. Was erhoffte er sich? Vielleicht, dass jemand ihn hasserfüllt in die Arme nehmen würde - mit einem Dolch in der Hand. Allem ein Ende machen! Potter vielleicht, der ihn am meisten hasste. Er könnte das Werk seines Vaters vollenden.

Severus rannte verzweifelt immer schneller. Dabei verfolgte ihn niemand. Niemand außer ihm selbst und dieser Stimme. Oh, diese Stimme! "Severus, bitte..."



Unterricht in Hogwarts. Es kam ihnen so unwirklich vor, hier zu sitzen und zu lernen, für das Leben. Welches Leben? Eines unter Voldemorts Gewaltherrschaft? Und die von ihnen, die schon tot waren, wofür hatten die gelernt? Und von welchen Lehrern sollten sie lernen? Von Toten? Mördern? Abwesenden? Oder neuen Herrschern von eigenen Gnaden?

Pflege magischer Geschöpfe. Wen interessierte das noch? Es würde bald keine mehr geben, wenn Voldemorts Leute richtig Ernst machten. Die pflegten niemanden! Professor Calyx entrollte eine Karte, auf der ein Einhorn abgebildet war. Ein schneeweißes Einhorn, Sinnbild einer Unschuld, die es nicht mehr gab. Niemand hörte den Ausführungen der Lehrerin ernsthaft zu. Selbst Hermine war ihre Strebsamkeit abhanden gekommen. Mit verkniffenen Augen starrte Harry auf den rotgoldenen Anhänger an Miss Calyx' Kette. Ein Phönix, ausgerechnet! War das plumpe Pietätlosigkeit oder absichtlicher Spott? Diese Ministeriumszicke trug das Symbol des gescheiterten Ordens, das Zeichen des toten Dumbledore! Sie bemerkte Harrys Blick und sagte mit einem sanften Lächeln: "Den Phönix behandeln wir später."

Nach einem Blick in die Runde seufzte sie und rollte die Karte wieder ein. "Und auch das Einhorn nehmen wir heute nicht durch", beschloss sie, "ihr seid unkonzentriert und unmotiviert, so kann man keinen sinnvollen Unterricht machen! Schade, ich hätte euch gern beim nächsten Mal draußen ein echtes Einhorn gezeigt. Aber so..." Sie warf ihre Notizen in die Aktentasche und wandte sich zum Gehen.

Nun regte sich doch ein Rest der alten, lernbegierigen Hermine. Sie sprang auf und rief: "Was machen Sie denn?"

Professor Calyx erwiderte freundlich und gelassen: "Nun, ich gehe. Ich habe Wichtigeres zu tun, als lustlosen Schülern Vorträge zu halten."

Hermine blickte ratlos zwischen der Lehrerin und den Schülern hin und her. Harry sprang von seinem Stuhl auf und schrie: "Ganz richtig, es gäbe sehr viel Wichtigeres zu tun, als hier herumzusitzen und Unterricht zu machen, als wäre nichts geschehen! Wenn man überhaupt noch etwas tun kann! Die Welt geht unter und Sie..."

Cassiopeia Calyx drehte sich zu ihm um, sah ihm ruhig in die Augen und fragte: "Ja, und ich? Was erwarten Sie von mir, Mister Potter? Dass ich die Welt rette, ich allein? Oder zusammen mit derart laschen, selbstmitleidigen Schülern?"

Sie wandte sich von ihm ab und ging weiter auf die Tür zu. "Sie wollen nicht wirklich einfach gehen, oder?" fragte Hermine fassungslos. Niemand hatte die Calyx hier haben wollen, aber sie konnte doch trotzdem jetzt nicht einfach abhauen und sie ganz allein lassen! Sie hatten doch niemanden mehr! "Jemand muss sich doch um uns kümmern!" rutschte es Hermine heraus. Harry funkelte sie verächtlich an.

"Jemand muss sich um Sie kümmern?" fragte Miss Calyx belustigt. "Wie wäre es mit Ihnen selbst? Ich dachte, Sie wären alt genug? Es wäre Ihre Aufgabe, sich um schwächere Wesen zu kümmern, aber was tun Sie? Sie können nicht einmal auf sich selbst achten und haben nichts Besseres zu tun, als im Selbstmitleid zu baden! Machen Sie die Augen auf, es gibt welche, denen es schlechter geht als irgendeinem von Ihnen! Die brauchen meine Hilfe dringender als Sie. Leben Sie wohl!"

Hermine rannte ihr nach bis zur Tür. "Aber... Wo gehen Sie denn hin?" Sie wusste gar nicht mehr, was sie denken sollte. Wollte die neue Direktorin nur diese Unterrichtsstunde abbrechen oder Hogwarts ganz und gar verlassen?

Miss Calyx sah ihr in die Augen und antwortete: "Ich verlasse Hogwarts, aber nur für eine kurze Zeit. Der Schulbetrieb wird nicht gleich zusammenbrechen, nur weil ein paar Schüler, die ohnehin nichts lernen wollen, ein paar Tage ohne Lehrerin und Direktorin dastehen, die sie sowieso nicht mögen. Ich hole ein paar Wesen, denen es schlechter geht als Ihnen und die Schutz brauchen, nicht nur von mir. Sie können sich dann überlegen - jeder Einzelne von Ihnen - ob diese kleinen Wesen nicht vielleicht mehr Hilfe brauchen als Sie und ob es eventuell Ihre Hilfe sein könnte." Mit diesen Worten ließ sie die Klasse ratlos zurück und wurde danach tatsächlich tagelang nicht mehr in Hogwarts gesehen.



Severus stöhnte vor Schmerz laut auf, als er über eine Wurzel stolperte und sich den Knöchel verrenkte. Aber er schleppte sich weiter vorwärts, in Richtung Hogwarts. Es war das einzige Ziel, das er kannte, auch wenn er es selbst zerstört hatte. Kein Albus wartete dort mehr auf ihn, nur Askaban oder der Kuss der Dementoren oder die Hand eines Mörders. Eines Mörders, wie er einer war. Der Mörder seines einzigen Freundes! Ja, er hatte den Tod verdient und hoffentlich würde er ihn bekommen, damit endlich Ruhe war. Nur nicht lebend nach Askaban und endlose Jahre weiter diese Stimme hören, Albus' Stimme: "Severus, bitte!" Aber er konnte es darauf ankommen lassen. Askaban machte keinen Unterschied mehr. Severus brauchte keine Dementoren, um zu verzweifeln oder um für den Rest seines Lebens die Stimme zu hören: "Severus, bitte!"

Als er das weiße Grabmal erblickte, wusste er, wohin er gerannt war: zu Albus, wie immer zu Albus. Er brach auf dem Grab zusammen, lag da wie ein schwarzer Fleck auf Dumbledores makellosem Weiß. Zittern und Schluchzen schüttelten ihn, als er darauf hoffte, dass ein Blitz vom Himmel fahren und ihn erschlagen würde. Aber nichts dergleichen geschah. Der weiße Marmor blieb völlig ruhig. Da fing Snape an, mit den Fäusten auf ihn einzuhämmern. Er schrie Albus an: "Warum tust du denn nichts? Ich habe dich umgebracht, erinnerst du dich? Kannst du nicht einmal einfach wütend werden, Albus? Bitte!" Dumbledores unerträgliche Güte brachte ihn um den Verstand. Severus begann wieder zu weinen. Es half alles nichts, er würde ganz allein damit fertig werden müssen. Albus würde ihm nicht helfen, sich zu bestrafen. Albus beging wahrscheinlich sogar die Todsünde, ihm zu verzeihen! Ja, das war eine Todsünde, denn Severus hatte den UNVERZEIHLICHEN Spruch gegen ihn verwendet! Niemand hatte ein Recht, das zu verzeihen, weder der Täter selbst, noch das Opfer.

"Wenn du mich nicht tötest, Albus, und der Himmel mich nicht erschlägt und keinen schickt, der mich richtet, dann werde ich es selbst tun." Aber noch hatte er nicht die Kraft dazu. Nur noch ein wenig liegen bleiben, hier bei Albus... Dabei war er so böse auf Albus! "Warum ich?" flüsterte Snape bitter, "warum immer ich? Wie heißt es? ‚Es muss ja Unheil kommen, aber wehe dem, durch den es kommt.'" Judas, der Verräter... Auch er konnte nicht damit leben.

"Severus Snape?" Der Tränkemeister schreckte hoch. Dann sah er der Gestalt ins Gesicht und lächelte. Endlich war jemand gekommen, um ihn zu suchen und zu richten.

Die Stimme in seinem Kopf schwieg endlich still und nach und nach schwanden all seine Erinnerungen dahin. Nachklänge eines schrecklichen Lebens. Er hielt es nicht fest.




Das Leben in Hogwarts ging irgendwie weiter. Ein paar Lehrer hielten Unterricht, obwohl keine Schulleitung da war. Einige Schüler nahmen daran teil, nicht gerade motiviert, aber um sich zu beschäftigen. Andere trieben sich den ganzen Tag ziellos im Schloss oder auf dem Gelände herum, einige wenige waren abgereist. Voldemort rührte sich vorläufig nicht, Snape war feige geflüchtet, über McGonagalls Befinden kam keine Nachricht, aber Miss Calyx kam eines Tages zurück. Die Schüler bereiteten ihr nicht gerade ein herzliches Willkommen, aber innerlich waren die meisten doch froh, dass überhaupt jemand da war. Und sie kam nicht allein.

"Was trägt sie da auf dem Arm?" raunte Ron, als sie Treppe zum Schloss emporstieg, "was ist in dem Bündel?" "Ein... ein Baby!" stellte Hermine überrascht fest, als die Direktorin an ihr vorbeikam. Ron fielen fast die Augen aus dem Kopf: "Sie hat ein Kind?" "Eins?" fragte Harry lakonisch. Dann erst bemerkten seine Freunde die kleine Gruppe von Kindern, die hinter der Lehrerin gingen. Hermine, stets exakt, zählte gleich nach: "Fünf." Außer dem Baby, das mit runden, blauen Augen aus seinem Tuch hervorlugte, waren da noch zwei Jungen und zwei Mädchen, alle schätzungsweise zwischen acht und zehn Jahren. Ein rothaariger Bengel, der bestimmt einmal ein freches Grinsen gehabt hatte. Das war ihm aber vergangen und er war sehr blass unter seinen Sommersprossen. Dahinter ein schmächtiges, dunkelhaariges Kerlchen mit ebenso ungesunder Gesichtsfarbe. Das Schlusslicht bildeten die beiden dürren Mädchen, Hand in Hand, ein blondes und ein braunhaariges. Sie alle blickten mit großen, neugierigen, aber auch ängstlichen Augen auf das gewaltige Schloss. Nur das Baby wirkte gut gelaunt.

Hermine war die erste, deren Mitgefühl sich regte. Ihre Emotionen waren in letzter Zeit ebenso eingefroren wie die der anderen, aber immerhin war sie diejenige, die früher für die Rechte der Hauselfen gekämpft hatte. Ein solcher Gerechtigkeitssinn stirbt nie ganz. "Die armen Würmchen", flüsterte sie Ron zu, "schau mal, der eine sieht dir ähnlich."

Das war ein Grund für sie, den kleinen Kerl zu mögen, aber nicht unbedingt für Ron. Rothaarige Gören, die ihm ähnlich sahen, hatte er zu Hause genug um sich herum. "Hm", machte er etwas hilflos und hatte in diesem Moment den Verdacht, dass er eines Tages kein allzu hingebungsvoller Vater sein würde. Aber dies war ohnehin keine Welt mehr, in die man ein Kind setzte. Na ja, die hier, die waren schon da und konnten nichts dafür, dass die Calyx sie angeschleppt hatte. Irgendwie taten sie ihm schon Leid. Er verspürte trotzdem wenig Lust, den Babysitter zu spielen, wo sie genug eigene Probleme hatten.


Der einzige, der sich innerlich völlig gegen die Neuankömmlinge sträubte, war Harry. Zu viel Grauenvolles hatte er erlebt, um sich noch Sympathie leisten zu können. Für seine beiden besten Freunde reichte sie noch, aber dann war Schluss. Allen anderen Menschen gegenüber empfand er nur Gleichgültigkeit und Misstrauen beziehungsweise, im Falle Voldemort oder Snape, blanken Hass. "Mit allem hätte ich gerechnet", murmelte er, "mit irgendwelchem magischen Viehzeug, das wir sinnloserweise pflegen sollen, aber doch nicht mit nervigen, kleinen Bälgern! Die sind doch außerdem garantiert alle unter elf, wüsste nicht, dass die hier rein dürften!"

Miss Calyx hatte seine letzten Worte gehört, drehte sich um und sagte mit einem liebenswürdigen Lächeln: "Ich wüsste nicht, wer sie daran hindern sollte. Oder haben Sie in meiner Abwesenheit eine neue Schulleitung bekommen?"

Sie führte ihre Schützlinge in die Große Halle und fütterte sie mit allerhand leckeren Dingen. "Euch werd ich schon aufpäppeln", meinte sie zuversichtlich und fütterte das Baby mit einem Milchfläschchen. Etliche Schüler waren ihr gefolgt und sahen zu, wie die ausgehungerten, kleinen Neuankömmlinge gierig alles aßen, was sie in die Finger bekommen konnten.

"Nun mästet sie die Blagen auch noch", brummte Harry, "als hätten wir nicht mit uns selbst genug zu tun!"

Nach der "Fütterung der Raubtiere", wie Harry es betitelte, ging Miss Calyx mit den fünf Kindern hinaus zu den Stallungen und wieder folgte ihr eine Schar ratloser Schüler. Hermine, Ron und Harry waren auch dabei.

"Mädchen!" stöhnte Ron, als die beiden weiblichen Kinder anfingen, auf der Wiese Blumen zu pflücken. Der rothaarige Junge hielt sich dicht bei Miss Calyx und spähte in den Stall, als sie die Tür einen Spalt breit öffnete.

Der dunkelhaarige drückte sich schüchtern an einer Ecke des Gebäudes herum. Harry musterte ihn mit wenig freundlichen Augen und er bemerkte es und machte sich noch ein Stück kleiner. Sein ängstlicher Blick ging Harry auf die Nerven. (Dass er ihm ein schlechtes Gewissen machte, hätte er nie zugegeben.) Er warf dem Kleinen einen extra bösen Blick zu, damit er woanders hinschauen sollte. Stattdessen füllten sich die Augen des Kindes mit Tränen und Hermine stieß Harry wütend in die Seite.

"Was tust du da? Lass ihn in Ruhe!"

Das besserte Harrys Laune nicht gerade auf. "Sagen die eigentlich nie was?" fragte er genervt und blickte von einem der schweigsamen Kinder zum anderen. Das einzige, das bisher ein Geräusch von sich gegeben hatte, war das Baby auf Miss Calyx' Arm, das von Zeit zu Zeit zufrieden gluckste.

Die Direktorin trat auf die Gruppe zu und erklärte: "Mister Potter, diese Kinder haben sehr Schlimmes hinter sich. Dinge, die ihnen die Sprache verschlagen haben. Aber sie werden wieder anfangen zu sprechen und eines Tages sogar zu lachen, wenn wir ihnen dabei helfen."

Harry verdrehte trotzig die Augen.

"Wie heißen die Kinder denn?" fragte Hermine rasch, um dem Gespräch eine versöhnlichere Wendung zu geben.

"Oh", sagte Miss Calyx lächelnd, "sie haben noch keine Namen. Besser gesagt, sie können uns ihre Namen nicht verraten, denn sie haben alles vergessen. Ihr ganzes früheres Leben."

"So ein Quatsch!" schnaubte Harry aufgebracht, "so etwas gibt es nicht!"

"Doch", widersprach Miss Calyx, "das gibt es, wenn Menschen zu viel Schlimmes erlebt haben. Es ist ein Schutzmechanismus."

Aber Harry schüttelte trotzig den Kopf. Das konnte es nicht geben. In seinem eigenen Leben gab es genug, was er gern vergessen hätte, doch das funktionierte nicht.

Miss Calyx beachtete Harry nicht weiter und blieb bei Hermines Namensfrage. Sie schaute nach den Kindern und entschied: "Das größere Mädchen nennen wir Goldie, würde ich sagen. Sie hat so herrliche, goldene Löckchen."

"Vielleicht Lockharts Tochter", zischte Harry Ron ins Ohr und der bekam einen Kicheranfall. Es war der erste seit langem.

"Das kleinere Mädchen", überlegte Miss Calyx weiter, "taufe ich Mini. Einfach weil sie noch so miniklein ist, hm?"

Über Hermines Gesicht huschte ein Lächeln. Auch das war das erste seit langer Zeit.

"Hermine und die Calyx scheinen sich ja super zu verstehen!" zischte Harry wütend.

"Weiber", meinte Ron fachmännisch, "wenn die nur was Minikleines und Goldiges zu betutteln haben!" Er sah das Ganze nicht so dramatisch. Sollten die Weiber doch bemuttern, wen sie wollten, solange er nichts damit zu tun hatte.

Nun blieben noch die beiden Jungen und das Baby zu taufen. Hermine betrachtete den Säugling: "Ist das eigentlich ein Junge oder ein Mädchen?"

"Ein Junge", antwortete Miss Calyx und ich nenne ihn vorerst Sweety. Wenn er älter ist, können wir ihm immer noch einen neuen Namen geben, der zu ihm passt."

Hermine stimmte begeistert zu: "Oh ja, er ist so süß!" Sie kitzelte das Baby und es gluckste fröhlich.

"Das hätte nicht so gute Laune, wenn es wüsste, wie es heißt", raunte Ron Harry zu, "Sweety! So einen bescheuerten Namen können auch nur Weiber einem Jungen geben!"

Welche verbalen Grausamkeiten würden sie wohl den beiden anderen Kerlchen antun? Über den Rotschopf entschied sie gleich darauf: "Das ist unser Rufus."

Die Zauberschüler waren gut genug in Latein, um zu wissen dass das "der Rothaarige" bedeutete. Miss Calyx schaute etwas besorgt nach dem Dunkelhaarigen, der sich nach wie vor ängstlich an die Stallwand drückte. "Und ihn,... hm, wie nennen wir ihn?"

"Weichei?" schlug Harry leise vor, so dass es nur Ron hören konnte. In diesem Moment erregte etwas anderes die Aufmerksamkeit der Truppe.

Ein majestätisches, strahlend weißes Einhorn stolzierte aus der offenen Stalltür auf die Wiese hinaus. Es war das Übungsexemplar, das Miss Calyx für Pflege magischer Geschöpfe vorgesehen hatte. Ehrfürchtig wichen die Schüler ein Stück zurück. So zynisch war doch keiner von ihnen geworden, dass ihn die Schönheit und Unschuld dieses Tieres nicht beeindruckt hätte. Außerdem flößte das lange, spitze Horn ihnen Respekt ein. Sie hatten leider im Unterricht nicht gut genug aufgepasst, um zu wissen, wie Einhörner auf Menschen reagieren. Nur der ängstliche, kleine Junge war auf einmal der Mutigste von allen und ging auf das Geschöpf zu. Vertrauensvoll blickte er es mit großen Augen an und streckte behutsam die Hand nach ihm aus.

"Nur die Unschuldigsten dürfen das wagen", wusste Miss Calyx und hielt etwas angespannt den Atem an. Sie war sich nicht sicher, ob sie sich Sorgen um das Kind machen musste. Ein übereiltes Eingreifen hätte das Einhorn aber erst recht scheu machen können. Die Sorge erwies sich auch gleich darauf als unbegründet, denn das Tier schnupperte kurz an der Hand des Jungen und rieb dann zärtlich den Kopf an seiner Wange. Der Kleine lächelte. Etwas unbeholfen sah das aus, so als ob er es lange nicht geübt hätte. Aber er war wirklich niedlich, wenn er lächelte (etwas, das Harry nie zugegeben hätte).

"Er muss ein ganz besonderes Kind sein", flüsterte Cassiopeia Calyx, "und ich denke, wir nennen ihn Filip." "Filip?" fragte Hermine. In Altgriechisch war sie noch nicht so gut wie in Latein. "Phil-Hippos", erklärte die Lehrerin, "der Pferdefreund. Selbstverständlich auch auf so spezielle Pferde wie Einhörner anwendbar."


Sie verbrachten den ganzen Nachmittag bei den Ställen. Betont teilnahmslos-cool standen die Schüler von Hogwarts herum und sahen - scheinbar aus den Augenwinkeln - den Kindern zu, die nach kurzer Zeit einfach anfingen zu spielen, als wäre dies noch eine lebenswerte Welt und als hätten sie nicht selbst schon reichlich das Gegenteil erfahren. Filip war nicht vom Einhorn wegzukriegen, das ihm etwas zu schenken schien, was ihm kein Mensch mehr geben konnte. Aber auch die anderen Kinder zog es zu Tieren hin. Mini hatte im Stall ein Kätzchen aufgetrieben und schleppte es energisch mit sich herum, obwohl es sich wehrte. Goldie hockte im Staub und fingerte eifrig Insekten unter Steinen hervor. Rufus lag faul im Stroh und betrachtete einige Fledermäuse, die schlafend an der Stalldecke hingen.
Die Kinder mochten ihr Gedächtnis verloren haben, aber jedes hatte seinen ganz individuellen Charakter, der schnell erkennbar wurde. Rufus war ein eher phlegmatisches Kerlchen, ganz im Gegensatz zur etwas hyperaktiven Goldie. Im Übrigen war Goldie auch etwas zickig. Sie war die Erste, die den Mund auf bekam - und das recht gründlich. Kaum hatte sie die Sprache wiedergefunden, hatte sie nicht Besseres zu tun, als mit Mini zu zanken. Mini wollte nicht recht darauf eingehen, ließ aber auch nichts auf sich sitzen. Sie wehrte die giftigen kleinen Verbalattacken des anderen Mädchens mit wenigen, aber gut sitzenden Worten ab und ging ihrer Wege. Mini wirkte sehr selbstbewusst, Filip hingegen scheu, und in seinen Augen lag eine seltsame Traurigkeit, als wäre da doch ein Rest einer Erinnerung hängengeblieben, eine dunkle Ahnung. Sein Freund, das Einhorn, aber wollte das nicht auf sich beruhen lassen. Es fing nach einer längeren Phase stiller Vertrautheit an, übermütig zu werden, als wollte es den Kleinen mitreißen. Es sprang über die Wiese wie ein lebenslustiges Fohlen. Der Junge blieb stehen und sah ihm betrübt nach. Er verstand nicht, was es von ihm wollte. Es hatte ihn verlassen und er war traurig darüber.

Miss Calyx stupste Rufus an, der vom Strohhaufen aus alles im Blick hatte. Leise ermunterte sie ihn: "Dein Kamerad ist einsam. Möchtest du nicht zu ihm gehen und ihn trösten?" Doch von dem rothaarigen Jungen kam nur ein gedehntes: "Nö." Er war ganz offensichtlich keiner, der sich gern engagierte. Die Lehrerin ließ ihren Blick über die Schülerschaft schweifen und als sich auch von denen keiner regte, zog sie leicht die Augenbrauen hoch und ging selbst hinüber zu dem Knirps, der als einziger noch gar kein Wort gesprochen hatte. Er zuckte zusammen, als sie von hinten an ihn herantrat und ihn berührte. Es musste doch so etwas wie der Rest einer Erfahrung in ihm sein, und keiner guten.

"Was ist mit dir?" fragte Cassiopeia Calyx sanft und sehr, sehr leise. Sie war neben ihm in die Hocke gegangen, um kleiner und ungefährlicher zu erscheinen. "Das Einhorn mag dich", flüsterte sie.

Der Junge richtete seinen Blick auf ihr Gesicht und sie konnte die Trauer in seinen Augen kaum ertragen. Aber er sprach endlich, sogar einen ganzen Satz, wenn auch kaum hörbar und sehr hoffnungslos: "Aber es geht weg."

Cassiopeia seufzte kurz, dann versicherte sie dem Kind: "Es mag dich trotzdem. Und es wird wiederkommen. Es geht nicht fort, um dich allein zu lassen."

Hermine, die nahe genug dabei stand, um die leise Unterredung zu verfolgen, raunte Ron zu: "Wer weiß, wen der arme, kleine Kerl in seinem kurzen Leben schon verloren hat."

Es gab in diesen Tagen viele Kinder, die erleben mussten, dass nicht nach jedem Abschied auch ein Wiedersehen kommt.

Miss Calyx legte einen Arm sehr vorsichtig um Filips schmale Schultern und wies mit dem anderen auf das herumtollende Einhorn, das immer wieder den Kopf nach dem Jungen wandte. "Es will, dass du mitspielst!" erklärte sie ihm. Der Kleine sah sie ungläubig an. Aber irgendwann machte er doch ein paar Schritte auf das Tier zu, zaghaft, als fürchte er jeden Moment eine Zurückweisung. Stattdessen kam das Einhorn näher. Filip blieb ganz ruhig und vertrauensvoll stehen, als das spitze Horn auf ihn zu kam. Vor seiner Berührung schreckte er nicht zurück, nur vor der der Menschen.

"Tiere sind doch immer wieder die besten Therapeuten", murmelte Cassiopeia beeindruckt. Und tatsächlich schaffte das geduldige, unermüdliche Einhorn nach einer Weile das Unglaubliche: Es lockte den kleinen Jungen so weit aus der Reserve, dass er irgendwann neben ihm her durch das hohe Gras sprang.

Hermine musste unwillkürlich lachen. Der Anblick des Kleinen rührte an etwas an ihr, das selbst wieder Kind sein und unbeschwert spielen wollte. "Wie ein kleiner Grashüpfer!" rief sie aus. Nun grinste auch Ron für einen kurzen Augenblick sein typisches Lausbubengrinsen.

"Ich würde sagen, der heißt nicht Filip, sondern Flip!" feixte er. Von diesem Moment an hatte der stille Junge seinen neuen Namen weg: Flip.

"Nicht nur Tiere sind gute Therapeuten", dachte Cassiopeia zufrieden bei sich, "sondern auch kleine Kinder."

Nur auf Harry machten weder die einen noch die anderen Geschöpfe Eindruck. Sein Gesicht war starr. Es gab nicht mehr den Jungen Harry Potter, den Jungen, der lebt. Es gab nur noch sein Denkmal: berühmt, aber kalt, hart, versteinert.
In den darauffolgenden Tagen und Wochen entwickelten sich sowohl die Gastkinder weiter, als auch die Beziehung der Schüler zu ihnen, - langsam, stetig, aber unübersehbar.

Sweety, das Baby, wuchs und gedieh und machte seinem Namen alle Ehre, wenn es ums Essen ging: für süßen Brei und Naschhaftes war es immer zu haben. Er war ein wahrer Wonneproppen und Sonnenschein, der jedem ein Lächeln schenkte und mit seinen großen, himmelblauen Augen fröhlich in die Welt blickte.

Rufus, der Rothaarige, hatte mit dem Säugling nur die Esslust gemeinsam, doch bei ihm konnte man weniger von einem freundlichen Lächeln, als von einem breiten, selbstgefälligen Grinsen sprechen. Er machte keinen Finger unnötig krumm und hatte ein Talent dafür, sich bei Tisch die besten Bissen herauszupicken.

Die sehr viel temperamentvollere Goldie war irgendwie überall gleichzeitig und steckte ihr Stupsnäschen in jede Angelegenheit hinein. Lästern, Kichern und das Herumtratschen und Ausschmücken fremder Geheimnisse waren ihr das Liebste.

Mini, egal wie klein, war bereits viel ernsthafter und konnte über solches Verhalten nur missbilligend den Kopf schütteln. Sie zog lieber mit ihrer Katze herum und versuchte geduldig, das störrische Tier zu erziehen. Wenn sie Kontakt zu den Jugendlichen suchte, dann vorwiegend zu Hermine, die ihr mit ihrer klugen, vernünftigen Art nicht unähnlich war.

Auch der schüchterne Flip hatte einen Liebling unter den Schülern: Harry Potter. Nun, "Liebling" war vielleicht nicht das richtige Wort, denn eher hegte er eine ängstliche Scheu vor dem großen Jungen, aber gleichzeitig schien der eine seltsame Anziehungskraft auf den Kleinen auszuüben. Sofern aber wirklich eine Art von Zuneigung von Flip für Harry bestand, wurde diese jedenfalls nicht erwidert. "Das kleine Biest verfolgt mich auf Schritt und Tritt!" und ähnliches zischte Harry seinen Freunden öfter zu.

Ron zuckte dann nur die Schultern, den gutmütigen Kerl störte das kleine Anhängsel wenig. Hermine aber konnte sich richtig über Harrys abweisendes Verhalten aufregen: "Er sucht deine Nähe. Du solltest stolz darauf sein und etwas draus machen! Hast du denn gar kein Verantwortungsgefühl?"

Mit solchen Sprüchen machte sie es nicht besser. Harry hatte viel zu lange Verantwortung für andere übernehmen müssen und was hatte es ihm oder anderen eingebracht? Einen toten Sirius, einen toten Dumbledore, eine vom Bösen beherrschte Welt? Je mehr der kleine Flip seine Nähe suchte und je mehr Hermine ihn bedrängte, desto stärker wurde Harrys zunächst unerklärliche Abneigung gegen das Kind.

Es gab aber noch jemanden, dessen Nähe Flip suchte: das Baby. Ausgerechnet er, der nie lächelte, schien sich an dem Strahlen des Kleinsten wärmen zu wollen. Und doch war er auch dem Säugling gegenüber zaghaft. Als Miss Calyx ihn ermunterte, das Baby auf den Arm zu nehmen, wich er ängstlich zurück. "Ich... würde ihm wehtun!" stieß er hervor und hielt abwehrend die Arme vor sich. "Das würdest du niemals!" behauptete die Lehrerin, "du bist doch ein gutes und vorsichtiges Kind und Sweety hat dich gern!" Doch Flip schüttelte heftig den Kopf und drückte sich aus dem Zimmer, mit dem unstetem Blick eines Kindes, das ein schlechtes Gewissen plagt. Cassiopeia schüttelte ratlos den Kopf.

Und dann kam der Tag, an dem die Lage sich zuspitzte. Harry plante einen Anschlag auf den lästigen Jungen, der ihn verfolgte. Er hatte nicht vor, ihn ernsthaft zu verletzen, jedenfalls nicht körperlich, aber er wollte ihn ein für alle davon abbringen, ihm zu nahe zu kommen. Eine kleine, aber wirksame Abschreckung für die kleine Nervensäge eben. Es würde wohl das Beste sein, den Angsthasen vor versammelter Mannschaft bloßzustellen, egal, was überbesorgte Gemüter wie Hermine oder die Calyx davon halten würden. Hauptsache, der Bengel suchte fortan das Weite, wenn er ihn sah. Alle anderen konnten Harry ruhig dafür verachten, es wäre ohnehin das Beste, wenn sie ihn ausnahmslos in Ruhe ließen. Und Ron würde ihm wohl noch bleiben, der war doch keinem Streich abgeneigt.

Die geeignete Gelegenheit bot sich beim Klassenpicknick am Seeufer. Hier würde der kleine Feigling Flip genug Publikum haben, wenn er sich vor Angst in die Hosen machte, und die Lehrerin hatte sich praktischerweise gerade entfernt, um noch einiges aus der Schulküche zu holen.

Harry hielt sich etwas abseits von der Gruppe, was inzwischen niemanden mehr verwunderte, und nahm unbemerkt mit dem Zauberstab kleine Veränderungen an der Landschaft vor. Er hob auf magische Weise eine Grube aus. (Diese Art der Gartenarbeit, ohne auch nur einen einzigen Tropfen Schweiß zu vergießen, hätte sicher Rufus' Beifall gefunden.) Dann sprach er leise immer wieder den Zauber "Serpensortia" aus und füllte die Grube mit zischenden, giftigen Schlangen. Sie würden die kleine Klette gehörig in Panik versetzen. Wirklich schaden würden sie ihm aber nicht, denn Harry, der Parselmund, hatte sie unter Kontrolle. Er bedeckte sie mit einer Schicht aus Laub und Gras und befahl ihnen, sich ruhig zu verhalten.

Die Tiere gehorchten ihm.

Harry schlenderte zurück zur Gruppe und sprach Goldie an: "Du, ich sag dir ein Geheimnis: Ich habe da drüben ein Erdloch entdeckt. Das sieht mir ganz nach einer Schatzgrube der Ufernixen aus! Sag's keinem weiter!"

Natürlich war das die zuverlässigste Methode, das Gerücht in Windeseile zu verbreiten. Die kleine Blondine wieselte in höchster Aufregung hin und her und erzählte mit glühenden Wangen von der Entdeckung, und mit jedem Zuhörer wurde der Schatz in der Grube größer und unermesslicher. Neugierig, aber doch vorsichtig näherten sich die Kinder und Jugendlichen der geheimnisvollen Grube. Die Vorwitzigsten spähten über den Rand, konnten aber zu ihrer Enttäuschung nur trockenes Laub sehen, statt der funkelnden Juwelen, die Goldie so prächtig geschildert hatte, als hätte sie sie selbst gesehen.

"Da iss nix", maulte einer, doch Harry wisperte geheimnisvoll: "Die Ufernixen pflegen ihre Schätze gut zu tarnen - und auch gut zu sichern. Es ist nicht ungefährlich, sie zu bergen, doch es lohnt sich."

Die Schüler warfen sich gegenseitig verstohlene Blicke zu, ob einer den nötigen Wagemut besäße. Selbst der träge Rufus wäre ein paar Reichtümern nicht abgeneigt gewesen, wenn nur ein anderer die Kohlen für ihn aus dem Feuer holte - und im Grunde ging es ihnen allen so.

Keiner machte ernsthafte Anstalten, in die Grube zu klettern. Einige schlossen sich bereits Hermine an, die mit skeptisch zusammengezogenen Augenbrauen etwas über "völligen Unsinn" gemurmelt hatte und sich nun zum Picknickplatz zurückzog.

Da verwirklichte Harry seinen perfiden Plan. Er setzte auf den Wunsch des kleinen Flip, ihm zu gefallen - und er hatte sich nicht getäuscht. Nach einigen Schmeicheleien, er sei doch ein ganz besonderes Kind, das sogar mit Einhörnern umgehen könne, und ob er ihm nicht den Gefallen tun könnte, war der schmächtige Junge bereit, für Harry in die Grube zu steigen. Er war zwar noch blasser als sonst, doch die Aussicht auf Harrys Anerkennung schien dem zögernden Jungen Flügel zu verleihen. Ohne die wäre er wie angewurzelt stehen geblieben, wo er war. Doch so setzte er tapfer einen Fuß vor den anderen, bis zum Rand der Grube.

"Seht euch Flip an", rief Harry, beinahe wie ein Marktschreier, "wie mutig er sein kann!" Und dann, als er alle Blicke auf dem Kleinen wusste, ließ er ihn mit ein dem unauffälligen Schlenker seines Zauberstabes stolpern. Flip purzelte in das Loch und sah dabei ziemlich lächerlich aus. Die ersten lachten bereits. Ein leise gezischtes Kommando und schon erhoben sich die Schlangenköpfe aus dem Blätterversteck.

Züngelnd tänzelten sie vor dem Gestrauchelten auf und ab, kamen immer näher an sein totenbleiches Gesicht heran und präsentierten ihre spitzen Giftzähne. Flip begann am ganzen Körper heftig zu zittern und erfüllte Harry sogar seinen größten Wunsch: Ein nasser Fleck breitete sich auf der Hose des Jungen aus. Doch das erhoffte Hohngelächter blieb aus. Die Umstehenden waren starr vor Entsetzen.

"Selber nur Feiglinge", dachte Harry verächtlich, "die hatten es noch nie mit Nagini zu tun wie ich!" Das hier waren bloß ein paar lächerliche Schlangen und er beherrschte sie. Unter seinem Kommando griffen sie den kleinen Schisser nicht an. Warum kapierte denn keiner, dass das hier lustig war? Nicht einmal Ron schien es witzig zu finden, sondern verzog sein Gesicht in einer Mischung aus Furcht und Abscheu. Und dann kam auch noch zum unpassendsten Zeitpunkt die Calyx zurück, im Schlepptau Hermine, die wohl gepetzt hatte, dass hier anscheinend etwas nicht ganz nach Vorschrift lief.

"Um Himmels willen, was ist denn hier los?" schrie die Direktorin und stürmte ohne Rücksicht auf Verluste los, stieß Harry beiseite und streckte ihren Arm nach dem Kind in der Grube aus. Die Schlangen stießen wütend mit den Köpfen nach ihr, als sie den erstarrten Flip aus dem Loch zerrte und hätten ihr Leben ernsthaft gefährdet, wenn Harry sie nicht mit seinem heimlichen Flüstern zur Räson gebracht hätte.

Cassiopeia Calyx fiel hintenüber und rollte ins Gras, den zitternden Jungen über sich. Sie hatte sich noch nicht ganz zum Sitzen aufgerichtet, um tröstend auf ihn einzureden und ihn an sich zu pressen, als schon das Plappermäulchen Goldie sie mit einer eindringlichen (und etwas zu mordlüsternen) Schilderung der sensationellen Geschehnisse überfiel.

"Goldie war schuld!" meldete sich ein Schüler aus dem Hintergrund, "sie hat doch von dieser blöden Grube angefangen!"

"Nein, es war Harry!" verteidigte sie sich atemlos, "er hat sie gefunden!"

Alles scharte sich aufgeregt um die zutiefst erschrockene Cassiopeia, den am ganzen Leib schlotternden Flip, die schnatternde Goldie und um Harry, der mit verschränkten Armen und verschlossenem Gesicht daneben stand.

Doch plötzlich lenkte der spitze Aufschrei einer Hufflepuff-Schülerin die Blicke in eine andere Richtung: "Miss Calyx, das Baby!" Sweety hatte die allgemeine Unaufmerksamkeit genutzt, um krabbelnd die Umgebung zu erkunden. Ungesehen war er bis zum Erdloch gekommen und war mit dem Oberkörper bereits über den Rand gerobbt. Mit großen, runden, neugierigen Augen betrachtete er die langen, dünnen Tiere, die sich am Boden hin und her bogen wie in einem Tanz. Er gluckste begeistert und streckte den Schlangen vertrauensvoll beide Ärmchen entgegen, - als er das Gleichgewicht verlor und kopfüber in die Schlangengrube stürzte.

Alle waren wie in einem einzigen Entsetzensschrei vereint. Harry spurtete los und zischte hastig auf die Schlangen ein. Natürlich sollten sie dem Baby nichts antun. Auch den nervigen Flip hatte er ja nur in Angst versetzen und bloßstellen, aber nicht ernsthaft gefährden wollen, und das Baby mochte irgendwie jeder, sogar er ein bisschen. Die Schlangen zischten zurück. Wild, aggressiv. Eine wickelte sich um das Baby, zwei andere züngelten vor seinem arglos strahlenden Gesichtchen herum. Harry lief es eiskalt den Rücken hinunter, als er begriff, was passiert war: Er hatte die Kontrolle über die Schlangen verloren! Sie hörten seine Parselworte, doch sie gehorchten ihnen nicht mehr. Entweder waren sie in einen Blutrausch verfallen oder sie hatten, wie Hunde, Harrys Angst gerochen und nahmen ihn nicht mehr ernst. Sie gaben ihm sogar höhnische Antworten in der Schlangensprache. "Wer andern eine Grube gräbt...", glaubte er herauszuhören und "Die Geister, die ich rief..." Vielleicht kamen die Stimmen aber auch nur aus seinem panikvernebelten Gehirn.

Der alte Harry Potter, der noch Mut und Anstand und Hoffnung hatte, hätte nicht so lange tatenlos daneben gestanden. Er hätte versucht, das Baby zu retten, selbst wenn er es nicht selbst in diese Gefahr gebracht hätte. Auch Cassiopeia Calyx oder die anderen Schüler hätten normalerweise noch so viel Verstand beisammen gehabt, überlegt zu reagieren und die Schlangen mit ein paar wohlgezielten Zaubersprüchen zu bekämpfen. Stattdessen waren in diesem Moment alle wie gelähmt, und das lag nicht nur an Schock und Furcht. Vielmehr ging von den wildgewordenen Schlangen eine Art lähmender, hypnotischer Kraft aus. Ihre kalten Blicke und ihr unheimliches Zischen machten das ganze verschreckte Häuflein denk- und handlungsunfähig.

Zuerst bemerkten sie nicht mal, dass in einen Einzigen Bewegung gekommen war. Erst als Flip schon am Rand der Grube stand, registrierten sie es. Aber auch jetzt waren sie unfähig, ihm oder dem Baby zu Hilfe zu eilen. Mit schreckgeweiteten Augen schauten sie zu, wie der schmächtige Junge langsam in das Loch hinunter kletterte. Seine Angst war ihm deutlich anzusehen, doch er überwand sie. Alle hörten die Zischlaute, aber allein Harry wusste, dass es nicht mehr nur die Schlangen waren. Der kleine Flip sprach mit den Schlangen. Er versuchte nicht, ihnen das Baby zu entreißen oder sie mit Flüchen zu bekämpfen, - er sprach mit ihnen! In ihrer Sprache, die kaum ein Zauberer beherrschte. Seine Kinderstimme zitterte, aber er redete sehr ruhig auf die Tiere ein. Und sie begannen sich zu entspannen, zischten leiser, schlossen die Lippen über ihre furchterregend gebleckten Fangzähne, fielen aus ihrer stocksteif aufgerichteten Haltung auf den Boden zurück. Diejenige, die sich um das Baby gewickelt hatte, erschlaffte und ließ es zu, dass der immer noch lächelnde Säugling sie streichelte.

Der blasse Junge schien jetzt mehr vor Erschöpfung als vor Furcht zu beben. Ganz behutsam, jede rasche Bewegung vermeidend, hob er das Baby vom Boden auf und über seinen Kopf hinweg bis über den Rand der Grube, wo er es absetzte. Dann kletterte er selbst, wie in Zeitlupe, aus dem tiefen Loch heraus. Die ganze Zeit über hatte er nicht aufgehört, leise zischend auf die Schlangen einzureden. Als er neben dem Baby im Gras ankam, ließ er sich kraftlos zu Boden fallen und blieb still liegen.

Je mehr sich die Schlangen beruhigt hatten, desto schwächer war ihr Einfluss auf die Gemüter der Umstehenden geworden. Als der kleine Junge und das Baby die Schlangengrube verlassen hatten, kam Bewegung in sie und alle stürzten sich auf die beiden Geretteten, um sie mit Trost oder besorgtem Geschnatter zu überschütten. Sie konnten nicht begreifen, wieso sie tatenlos daneben gestanden hatten.

Cassiopeia drückte den kleinen Flip an sich und stammelte immer wieder: "Siehst du,... ich habe es doch gewusst,... du bist ein gutes Kind,... ein mutiges Kind!... Das Baby... Du würdest ihm nie wehtun... Du hast es gerettet!"

In der allgemeinen Aufregung ging die Schuldfrage einfach unter, zumal jeder für sich ein schlechtes Gewissen hatte, weil er dem Baby unbegreiflicherweise nicht zu Hilfe gekommen war. Nur zwei hielten sich aus dem ganzen Getümmel heraus und standen abseits: Harry, immer noch mit verschränkten Armen, und Hermine. Mit ihren klugen Augen sah sie ihn gnadenlos an. "Ich weiß, dass du es warst, Harry. Die kleine Goldie hat ausnahmsweise die Wahrheit gesagt." Er wollte zu einem halbherzigen Widerspruch ansetzen, doch sie ließ ihn nicht dazu gekommen. "Warum hast du das getan?"

Harry wusste es selbst nicht. "Ich kann ihn nicht ausstehen", murmelte er ratlos, "er ist mir lästig, irgendwie werde ich ihn nicht los. Ich wollte ihm nur eine Lektion erteilen."

"Feine Lektion für ein kleines Kind!" tobte Hermine. "Harry, es reicht! Ich habe immer zu dir gehalten, aber du hast dich so verändert. Klar, du hast viel durchgemacht, aber das gibt dir noch lange nicht das Recht, es an einem unschuldigen Kind auszulassen, das selbst kein leichtes Leben hat! Ich weiß, dass du nicht mehr wie früher bist, ich bin es auch nicht, aber so etwas hätte ich nie von dir gedacht, niemals!" Sie steigerte sich regelrecht in ihre Vorwürfe hinein, analysierte gleichzeitig aber mit messerscharfem, kühlem Verstand Harrys Psyche: "Ist er dir zu ähnlich, mit seinem blassen Gesicht und den dunklen Haaren und den unglücklichen Augen, kannst du ihn deshalb nicht leiden? Weil du dich selbst hasst? Oder kannst du nicht ertragen, dass jetzt ein anderer das besondere Kind ist, nicht du? Ist es das?"

Dass sie ihn mit diesen Worten stehen ließ und erhobenen Hauptes abrauschte, um mit den anderen zum Schloss zurück zu gehen, tat weh.

Dass im selben Moment noch Ron ankam, die Unterhaltung aufgeschnappt hatte und ins gleiche Horn stieß, machte es nicht gerade besser. "Mann, Harry", sagte er fassungslos, "weißt du, was? Flip hat ganz schön mutig gehandelt - und du ganz schön feige." Und damit kehrte sich auch dieser Freund von ihm ab und ging.

Panik vor dem Alleinsein packte Harry und gleichzeitig eine unbändige Wut. Wie redete denn Ron plötzlich mit ihm? Verstand der auf einmal gar keinen Spaß mehr? Gut, wenn er genauso streberhaft werden wollte wie Hermine, sollte er doch! Sollten sie doch zusammen glücklich werden, er brauchte sie nicht! Nicht wirklich...

Das Unglück ist wie ein Raubvogel: Wenn es einen erstmal fest im Griff hat, lässt es so schnell nicht locker. Zu allem Überfluss wurde Harry beim Abendessen - ganz allein an einer Ecke des Tisches - auch noch von der Calyx angesprochen. Offenbar schenkte auch sie dem Gerücht Glauben, dass Harry hinter der Sache steckte. Sie hatte sich mit dem Vorsatz neben ihn gesetzt, in aller Ruhe mit ihm über den Vorfall zu reden, doch als er mit finsterem Blick ein Stück von ihr abrückte, packte sie der Zorn von neuem. Sie sprang von dem eben erst besetzten Stuhl wieder auf und ließ ihrer Empörung freien Lauf, ohne die Worte sorgsam zu wählen: "Menschenskind, was haben Sie sich nur dabei gedacht, Potter? Ich nehme den Kindern nicht mühsam ihre schlimmen Erinnerungen, damit Sie ihnen neue machen!" Sie knallte die Gabel, die sie nervös zwischen den Fingern gedreht hatte, auf den Tisch und ging zurück an ihren eigenen Platz.

Die Worte der Direktorin ließen Harry keine Ruhe mehr. Es waren nicht ihre Vorwürfe, die ihm ein schlechtes Gewissen machten, sondern wie sie sich ausgedrückt hatte: Sie habe den Kindern mühsam ihre schlimmen Erinnerungen genommen. Irgendetwas störte ihn an dieser Formulierung. Man konnte versuchen, traumatisierte Kinder von ihren Erinnerungen abzulenken oder ihnen positive Erfahrungen als Gegengewicht anzubieten, aber man konnte ihnen ihre Vergangenheit nicht einfach abnehmen. Erinnerungen wegzunehmen, klang irgendwie unnatürlich und unrecht. Harry wurde das vage Gefühl nicht los, dass hier etwas nicht stimmte. Vielleicht war es auch nur sein Wunsch, er könnte der Calyx etwas Böses nachweisen, sie unbeliebt machen und loswerden, wie die Umbridge - oder wenigstens nicht mehr als einziger Böser dastehen.

Diese Gedanken arbeiteten so lange in ihm, bis er es einfach tun musste: Er spionierte seine Lehrerin aus. Viele Tage lang hatte er unbewusst nur noch auf diese Gelegenheit gewartet und als sie plötzlich kam, ergriff er sie. Die Calyx hatte den Schlüssel zum Direktorenturm im Klassenzimmer liegenlassen. Bevor sie es bemerkte und zurückkam, hatte Harry sich bereits eine magische Kopie angefertigt. Weitere Tage lang wartete er, trotz seiner Ungeduld, um nicht aufzufallen. Dann schwänzte er "Pflege magischer Geschöpfe" - die Calyx musste draußen beim Stall sein - und verschaffte sich Zutritt zum Turm.

Es war ein seltsames Gefühl, diesen Teil des Gebäudes zu betreten, wo früher Dumbledores Reich war. Aber er verschärfte nur Harrys Wut auf die unrechtmäßige neue Besitzerin der Räume und des Postens. Im Direktorenbüro selbst erinnerte allerdings nur noch wenig an Dumbledore. All seine kleinen mechanischen Spielzeuge waren verschwunden. Nur der Phönix, Fawkes, saß noch auf seiner Stange. Die Calyx hatte ihn sich also einfach angeeignet! Harry schnaubte. Der Vogel beachtete ihn nicht. Dumbledores riesiger Schreibtisch war beinahe leer und wirkte dadurch noch größer. Nur Denkarien standen darauf, fünf Denkarien. Harry hatte seine Erfahrungen mit den Dingern. Weshalb hatte die Calyx sie als einziges aufbewahrt? Was trieb sie mit den Erinnerungen anderer Menschen, die Albus Dumbledore gesammelt hatte? Erpresste sie am Ende irgendwen? Spielte sie Voldemort Informationen zu? Harry traute der verhassten Frau alles zu. Wessen Vergangenheit mochte hier sichtbar sein? Vielleicht auch die von Dumbledore selbst? Was würde der Dunkle Lord nicht für das geheime Wissen seines verstorbenen größten Widersachers geben? Harry war auf fast alles gefasst, - doch mit den Namensschildchen auf den Schalen hatte er nicht gerechnet. Ungläubig starrte er darauf.

"Goldie". "Mini". "Flip". "Rufus". Fein säuberlich beschriftet. Das bei weitem größte Denkarium aber war das mit dem Etikett "Sweety". Wie viele Erinnerungen hatte denn ein Baby schon aufzubewahren? Harry starrte angewidert auf die Schilder. Er kannte die grundschullehrerinnenhafte Handschrift nur zu gut. Die Vorstellung, dass die Calyx den kleinen Kindern all ihre Erinnerungen herausgesaugt und in diesen Schalen abgelegt hatte... Er schüttelte sich. Auf einmal beneidete er die Kinder nicht mehr um ihr gnädiges Vergessen. So sehr er unter seinen schlimmen Erinnerungen litt, aber er würde seine ganze Vergangenheit - seine Identität! - nicht auf diese Weise hergeben wollen.

Und doch war es nur Abscheu, was er fühlte, kein Mitleid für die Kinder, schon gar nicht für Flip. Die Unterstützung, die er von Harrys ehemaligen Freunden erhielt, machte dessen Hass auf ihn nur brennender. Es konnte nicht schaden, ein wenig in den Erinnerungen des Kleinen zu wühlen. Das Wissen, welche Schrecklichkeiten er genau durchlebt hatte, würden Harry unbegrenzte Macht verleihen, ihn in Angst und Schrecken zu versetzen oder bloßzustellen. Viel mehr als mit ein paar läppischen Schlangen! Er gab der Versuchung nach und tauchte in Flips Denkarium ein.



Harry tauchte durch einen weißen Nebel und landete schließlich weich auf einer Wiese. Er sah ein Kleinkind, einen winzigen Jungen. Das musste Flip sein. Seine Haare waren bereits dunkel, nicht zunächst blond, wie bei so vielen Kindern. Er hüpfte auf die Weise durchs Gras, wie er es heute noch tat, pflückte Blumen, wand aber keine Kränze. Er war ja kein Mädchen! Mit geradezu akribischer Neugier untersuchte er die Pflanzen. Ein leichtes Zittern und Rascheln ging durch die langen Grashalme. Zuerst hielt Harry es für die Auswirkung einer sanften Sommerbrise. Doch dann erkannte er, dass ein schlanker, glitzernder Leib sich auf das Kleinkind zu wand: eine Schlange! Unwillkürlich zuckte er zusammen. Im nächsten Moment viel ihm ein, dass es ihm um dieses lästige Balg nicht Leid täte und im übernächsten, dass es ihm heutzutage wohl kaum auf die Nerven ginge, wenn die Natter damals zugebissen hätte. Das Reptil zischte und das Kind antwortete ihm. Harry, selbst ein Parselmund, konnte das Gespräch verstehen. Allerdings bediente sich Flip noch einer Art lallender Babysprache und die Themen der Unterhaltung waren recht belanglos: Dinge wie das Wetter und die Kellerasseln unter dem nächsten Stein.

Dann verschwamm das Bild. Harry fand sich in einem düsteren Zimmer wieder. Erst als seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, entdeckte er Flip, nun etwas älter, vielleicht vier oder fünf. Neben ihm hockte ein weiteres Kind, ein kleines Mädchen. Es kauerte sich in eine Ecke, während Flip lässig an der Wand lehnte und die Beine lang ausstreckte. "Ich habe Angst", flüsterte das Mädchen mit bebender Stimme, "ich will hier raus!"

"Ich bringe dich hier raus", beruhigte Flip sie.

"Komm mit!"

"Du kennst einen Ausweg?" fragte sie fassungslos, "warum bist du dann noch hier? Warum lässt du dich dann noch von ihnen hier einsperren?"

Der kleine Junge erwiderte: "Sie denken, dass sie mich hier einsperren. Sie wissen nicht, dass ich den geheimen Ausweg kenne."

"Aber warum bleibst du dann hier?"

"Weil man hier seine Ruhe hat. Im Keller sucht einen niemand."

Ob Harry wollte oder nicht, er musste an seine Kinderjahre im finsteren Besenschrank denken. Wohl oder übel musste er sich eingestehen, dass er ähnlich empfunden hatte wie Flip: Das Verlies war kein schöner Ort - aber auf seine Art angenehm, weil dursleyfrei.

Es wurde noch dunkler als bisher, und als die Schwärze sich allmählich in Dämmerung verwandelte, war Harry an einem anderen Ort. Er stand in einem hellen Zimmer, das aber keineswegs freundlicher wirkte als der dunkle Keller. Eine unangenehme Männerstimme dröhnte durch die verschlossene Tür in den Raum, zu laut als dass Harry einzelne Worte unterscheiden konnte. Flip, ziemlich genau der Flip, den er heute kannte, drückte sich in eine Ecke und hielt sich die Ohren zu. Er hatte blaue Flecken an den mageren Armen. Das musste passiert sein, kurz bevor die Calyx ihn aus seinem ungemütlichen Zuhause herausholte. Harry schluckte. Er konnte nicht verhindern, dass ihn ein gewisses Mitleid mit der kleinen Nervensäge beschlich. War schon besser, dass der Junge hier in Hogwarts war als an einem solchen Ort; aber er musste sich ja nicht unbedingt gerade an Harrys Rockzipfel hängen. Vielleicht könnte man überein kommen, sich gegenseitig in Ruhe zu lassen: Harry den Kleinen mit seinem Hass und der ihn mit seiner klettenhaften Anhänglichkeit.

Als die Umgebung abermals verschwamm, rechnete Harry fest damit, aus dem Denkarium aufzutauchen. Er war ja an dem Punkt angelangt, wo Flip so alt war wie heute. Doch er fand sich nicht im Direktorenbüro wieder, sondern zum zweiten Mal auf einer grünen Wiese. Fing jetzt alles von vorne an? Flip als Kleinkind beim Blumenpflücken und Asselnsammeln und im Gespräch mit der Schlange? Harry schaute sich um, entdeckte aber weder den kleinen Jungen, noch das Reptil. Dafür bemerkte er, dass ein Seeufer in der Nähe war. Die Wiese war menschenleer. Schließlich betrat ein Junge die Szene, aber kein Kleinkind, sondern ein Hogwartsschüler in seiner Uniform. Harry konnte sein Gesicht nicht sehen, es war von Haaren verdeckt, da der Junge (oder war es ein Mädchen?) den Kopf tief über ein Buch geneigt hatte. Er oder sie setzte sich ins Gras und las konzentriert weiter. Dann kamen weitere Schüler. Sie lachten und johlten und fuchtelten übermütig mit den Zauberstäben. Auch ihre Gesichter konnte Harry nicht sehen, denn sie kamen aus derselben Richtung wie er. Als sie ihn überholten, sah er nur ihre Rücken. Schwarze Umhänge, die zu jedem Haus von Hogwarts gehören konnten. Die Schüler fingen an, die lesende Person zu belästigen, rissen Witze, lachten schadenfroh, und irgendwann riss einer plötzlich den Zauberstab hoch und ließ das Opfer des allgemeinen Spotts, ehe es sich versah, kopfüber in der Luft baumeln. "Levicorpus! - Hose runter!" Harry hatte ein Déja-vu-Erlebnis. Er kannte diese Erinnerung! Aber es war nicht die richtige. Es war nicht die des kleinen Flip, sondern er hatte sie einst in Professor Snapes Denkarium gesehen. Irgendetwas lief hier schief. Vertrugen sich vielleicht zu viele Denkarien an ein und demselben Ort nicht? Konnte es zwischen ihnen so etwas wie Interferenzen geben?

Harry versuchte aufzutauchen. Er hatte plötzlich keine Lust mehr auf Flips Erinnerungen und erst nicht auf die von Professor Snape. Er warf einen letzten Blick auf den in der Luft baumelnden, jungen Snape und kniff dann die Augen zu, um sich aufs Verlassen des Denkariums zu konzentrieren. Doch es funktionierte nicht. Panik befiel Harry, als er merkte, dass er keinen Ausweg mehr aus der in der Schale konservierten Welt fand. Wie leichtsinnig von ihm, ohne die Erlaubnis oder Unterstützung einer erfahrenen Person ein Denkarium zu betreten! Weißer Nebel wirblte um ihn herum, doch er tauchte einfach nicht auf. Er steckte irgendwo zwischen den Zeiten fest, kam weder in der realen Welt wieder heraus, noch auch nur in einer neuen Erinnerung. Um ihn war nur alptraumhafter Nebel, und das Gesicht des jungen Snape verfolgte ihn, verkehrt herum, hilfesuchend. Diese verhassten schwarzen Augen bohrten sich in seine. Sie machten es Harry unmöglich, Snapes schon in diesem Alter sehr markante Nase zu sehen, seine fettigen Haare oder sonst irgendwas. Da waren nur diese Augen, und sie schauten nicht finster, wie Harry sie kannte, sondern schreckgeweitet. angstvoll, wie... Nein, das konnte nicht sein! Flip war ein kleiner Junge, kein halbstarker Hogwartsschüler. Erst recht kein erwachsener Mann, wie Snape, der Mörder. Snape, der Feigling, war irgendwo da draußen und versteckte sich vor der Gerechtigkeit. Flip war ein lästiges, aber unschuldiges, kleines Kind. Er war ein kleiner Sonderling, aber kein finsterer Verbrecher. Er hatte weder einen miesen Charakter noch eine Hakennase, und seine schwarzen Haare waren nicht fettig. Er hatte nur... diese Augen... dieselben Augen... Vielleicht würde eines Tages die Pubertät sein Haar fettig und seine Haut pickelig werden lassen, seine kleine Kindernase würde länger werden, krummer... Möglich. Auch dass das Leben ihn irgendwann bitter werden ließe, vielleicht böse. Aber Flip war ein kleiner Junge. Die Erinnerungen des etwa vierzigjährigen Snape hatten nichts in seinem Denkarium verloren. Schluss, aus!

Harry unternahm eine verzweifelte Anstrengung, aus dem Denkarium auszubrechen. Tatsächlich spürte er, wie er einen Satz machte. Doch als er die Augen öffnete, fand er sich wieder nicht im Büro, sondern anscheinend in einer weiteren Erinnerung. Auch diese kannte er: Es war seine eigene! Irgendetwas lief mit diesem Denkarium verdammt schief! Absolutes Grauen befiel ihn.

Es war nicht nur das panische Gefühl, sich ausweglos in sich vermischenden Erinnerungen zu verstricken wie in einem Fangnetz. Beinahe noch schlimmer war, dass Harry ausgerechnet in einer seiner allerschlimmsten Erinnerungen gelandet war. Sie war noch sehr frisch, und die Wunde, die sie in seiner Seele geschlagen hatte, auch. Er sah sich selbst. Er sah Draco. Er sah Dumbledore. Er sah Snape. Wie in Zeitlupe sah er Snape den Zauberstab heben. Er wusste, was geschehen würde, wollte schreien, Einhalt gebieten, aber sein Mund öffnete sich unendlich langsam und sein Schrei blieb stumm. Für einen Sekundenbruchteil blickte Snape ihn an. Nicht den in der Erinnerung vorhandenen Harry, sondern den Eindringling im Denkarium, den er gar nicht sehen konnte. Für einen Augenblick meinte Harry in seinen schwarzen Augen nicht kalten Hass zu sehen, so kurz vor dem Mord, sondern tiefe Verzweiflung. Für einen Moment sah er nicht Snape, sondern Flip. Doch das änderte nichts daran, dass der Snape in der Erinnerung unweigerlich das tun würde, was er unwiderruflich getan hatte. Dumbledore bat ihn eindringlich: "Severus, bitte!" Es waren seine letzten Worte. Harry schlug die Arme vors Gesicht, um nicht noch einmal den tödlichen, grünen Lichtblitz sehen zu müssen.

Auftauchen, nur auftauchen! Weg von all den fremden Erinnerungen und vor allem von seiner eigenen! Harry war nur noch von diesem einen Wunsch erfüllt, doch er drang nicht an die Oberfläche. Es fühlte sich an, als sei er im Wasser zu tief getaucht und versuchte nun verzweifelt, hochzukommen, weil ihm die Luft ausgegangen war, doch der Weg war zu weit. Wasser, nur immer mehr Wasser umgab ihn, keine Luft, und der Druck auf Kopf und Lungen nahm stetig zu. Er hatte den übermächtigen Drang, den Mund aufzureißen und wusste doch, dass er sofort ertrinken würde. Und dann, als er jeden Moment zu sterben glaubte, fühlte er plötzlich einen Luftzug und wusste, dass es ein Hauch von Realität war. Er riss die Augen auf und sah das vertraute Büro. Vor ihm stand die Schale voll Erinnerungen. Harry keuchte.


Wie einem, der knapp vor dem Ertrinken gerettet wurde, kehrten auch Harry nur langsam die klare Wahrnehmung und der Verstand zurück. Doch was übrig blieb von all dem Gewirr aus Erinnerungen, behagte ihm kaum besser als der Zustand der Todesangst. Denn es war die plötzliche Gewissheit, dass das Denkarium nicht defekt war. Harry hatte nicht die Erinnerungen dreier Menschen gesehen, sondern die eines einzigen. Was er für seine eigenen gehalten hatte, war die Erinnerung Snapes, des Mörders, an seine Tat. Es war alles das Gedächtnis des Verräters: Snape,... Flip. Wie auch immer es möglich war: Flip war Snape! Die Ähnlichkeit war noch nicht so auffällig, dass es ihm vorher aufgefallen wäre, und doch stark genug, dass er dieses Kind unterschwellig gehasst hatte. Wie infam von Snape, dem mörderischen Verräter, sich ausgerechnet als unschuldiges Kind zu tarnen und sich hier, unter ihrer aller Augen zu verstecken! Hatte der unverschämte Kerl denn gar keine Angst, dass ihm irgendwann der Vielsafttrank ausgehen würde? Nun ja, der Meister der Zaubertränke würde sich wohl neuen brauen können. Und ohnehin hatte Harry nicht vor, so lange zu warten, bis der Verbrecher aufflog. Sein Zorn verlangte nach einem Ventil, sofort!

Ohne seine Spuren zu verwischen, ohne auch nur die Tür hinter sich zu schließen, ohne leise aufzutreten, polterte Harry in blinder Wut die Turmtreppe hinunter und fand sehr bald denjenigen, den er gesucht hatte. Flip saß auf der untersten Treppenstufe, wie immer dem "großen" Harry auf den Fersen, obwohl der ihn gar nicht gut behandelt hatte. Er spielte versonnen mit einem Steinchen, das aus der Mauer gebröckelt war. "Spionierst du mir nach?" schrie Harry ihn an, "darin bist du ja bekanntlich gut, du Ratte!" Dem verdutzten Kleinen blieb keine Zeit für eine Antwort, denn der Große hatte ihn bereits am Kragen gepackt und schleifte ihn unsanft die Stufen hinauf. Er zerrte ihn vor das Denkarium. Mit großen Augen blickte Flip auf die schimmernde Oberfläche in der Schale. "Was ist das?" fragte er, "ein Trank?" Statt einer Erwiderung drückte Harry den Kopf des Kleinen nach unten, so dass sein Gesicht fast eintauchte. "Harry, was machst du?" quiekte das Kind erschrocken, "ich habe Angst!" Weiter kam er nicht, denn Harry drückte ihn mit aller Gewalt in das Denkarium. Er kleine Junge zappelte und wehrte sich so verzweifelt, dass er tatsächlich noch einmal kurz dem eisernen Griff entkam und auftauchte. "Harry, nicht tunken!" flehte er, doch schon wurde er wieder untergetaucht.


Lange, lange Zeit hielt Harry den kleinen Körper fest. Wäre die Schale mit Wasser gefüllt gewesen, wäre er längst ertrunken. Doch Harry wusste, wo der Junge war, obwohl er ihn eigentlich in den Händen hielt. Er war in den Erinnerungen an sein verruchtes Leben. Er sollte wissen, dass Harry ihn entlarvt hatte und er sollte seine schändlichen Taten noch einmal sehen müssen.

Plötzlich wurde Harry nach hinten gerissen. Er stolperte und fiel zu Boden und zog dabei Flip mit sich. Aus dem Denkarium befreit, lag der kleine Junge nun heftig keuchend auf Harrys Bauch. Er war totenbleich und zitterte am ganzen Körper. Seine Augen waren vor Entsetzen weit aufgerissen. Eine Hand tätschelte hastig seine Wange. Cassiopeias schmale Finger spürten die schreckliche Kälte des kleinen Körpers. "Er hätte sterben können!" kreischte sie Harry an, "was ist dir nur eingefallen....? Um Gottes Willen, Flip,... Flip!" Das Kind zeigte keine Reaktion. Es schien noch völlig in der anderen Welt verloren, die es gesehen hatte. Wären da nicht die heftigen Atemstöße gewesen, so hätte man es für tot halten können, so eisig, wie es sich anfühlte und so unansprechbar, wie es blieb. "Du hast alles kaputt gemacht!" schrie Professor Calyx und klang dabei geradezu weinerlich, "Gott, ich habe mir solche Mühe gegeben und du Unglückswurm kommst daher und machst alles kaputt!"

Harry sah sie hasserfüllt an. "Er wäre fast gestorben?" fragte er giftig, "wie schlimm! Wie schrecklich, wenn ein Mörder wie er selber draufgeht! Ja, da gucken Sie, was? Ich bin nicht so blöd, wie Sie denken. Ich weiß, wer er wirklich ist: Snape! Dieses Miststück hat Dumbledore auf dem Gewissen und rennt schamlos hier rum, als kleines Kind verkleidet!"

"Schamlos?" fragte Cassiopeia, "ja, wenn du so willst... Man schämt sich nicht für eine Tat, von der man nichts weiß."

Harry versuchte mühsam, eins und eins zusammenzuzählen. "Sie haben diesen Mörder nicht nur versteckt, sondern auch sein Gedächtnis gelöscht?"

Die Lehrerin schüttelte seufzend den Kopf. "Wie hat ein Muggelkomiker einst gesagt", erwiderte sie, "'Was man nicht selber weiß, dass muss man sich erklären.' Was zu hoch ist, als das man es versteht, das sollte man in Ruhe lassen, Harry. Es ist gefährlich, sich eine einfache Erklärung zusammenzubasteln und blind mit höherer Magie zu experimentieren."

Harry musste sich eingestehen, dass er wirklich gar nichts mehr begriff. Statt ihn weiter einzuweihen, war Miss Calyx jedoch ganz und gar damit beschäftigt, Flip - Snape? - wiederzubeleben. "Verlasse diesen Raum", befahl sie Harry mit gezwungener Ruhe, "wir sprechen uns noch." Als Harry zur Tür ging, schickte sie dem drohend klingenden Satz einen etwas versöhnlicheren Zusatz hinterher: "Erklärungen werden folgen. Aber erst muss ich versuchen, den Schaden einzugrenzen, den du angerichtet hast."



Die folgenden Tage waren für Harry die Hölle, bestehend aus Warten, einer Scham, die er sich nicht eingestehen wollte, trotzigem Zorn und dem erfolglosen im-Kreis-Grübeln in einer unlogischen Geschichte. Die versprochenen Erklärungen wollten und wollten nicht folgen, die eigenen, unablässig arbeitenden Gedanken liefen immer wieder erfolglos ins Nichts, und der Anblick des totenbleichen, kleinen Jungen, der an der Hand der Direktorin zombiehafte Gehübungen auf dem Schulhof machte, trug auch nicht zu besserer Laune bei. Im einen Moment war Harry sich hundertprozentig sicher, Snape vor sich zu haben und hätte den "lebenden Toten" nur zu gern in einen richtigen Toten verwandelt. Im nächsten Augenblick verspürte er Mitgefühl und Reue, weil dieses kleine Bürschchen keinesfalls Snape sein konnte. Ähnelte es nicht viel eher ihm selbst, dem schmächtigen Kerlchen von einst, mit dunklem Haar und dem blassen Teint der Eingesperrten? Beide Theorien aber konnten nicht gleichzeitig stimmen. Harry hatte doch keine Ähnlichkeit mit Snape! Genauso wenig wie Gemeinsamkeiten mit Voldemort!

Doch Cassiopeia Calyx sollte ihr Versprechen halten. Auch wenn die Tage bis dahin Harry wie eine Ewigkeit erschienen, irgendwann erhielt er die Eule mit der sehr förmlichen Einladung ins Direktorenzimmer. Als er die Treppe zum Turm hinaufstieg, fühlte er sich wie ein Schulkind, das einen Tadel bekam, doch er spürte, das es hier um weit ernstere Dinge ging.

Harrys Blick fiel zuerst auf die vier Denkarien, die säuberlich auf dem Tisch aufgereiht waren. Dem Tisch, der einst Dumbledore gehörte. Aber waren es nicht fünf gewesen? Richtig, das größte fehlte. Unbehaglich starrte Harry auf das Becken mit der Aufschrift "Flip". "Du hattest so Unrecht nicht", vernahm er Cassiopeia Calyx' Stimme und blickte widerwillig auf, in ihr Gesicht, "und warst doch so sehr im Unrecht."

Sie lüftete einen Vorhang, der neuerdings das Zimmer teilte, ein klein wenig, und Flip trat hervor. Er ging sehr zögerlich und schien noch wackelig auf den Beinen, aber er war durchaus wieder in der Lage, seine Umwelt wahrzunehmen. Irgendwie gab es Harry doch einen Stich, dass sein Blick, der sonst bewundernd auf ihm geruht hatte, voller Angst und Widerwillen war, als er auf Harry fiel. Cassiopeia ergriff die Hand des Kleinen. "Er lebt", stellte sie trocken fest, "es hätte auch anders ausgehen können. Bevor man andere als Mörder bezeichnet, sollte man sich vorsehen, nicht unversehens selbst zu einem zu werden! Und wer viel zu jung ist, um die Geheimnisse von Leben und Tod zu begreifen, sollte nicht damit spielen." Sie atmete tief durch, warf einen besorgten Blick auf Flip und fuhr dann fort:

"Ja, unser Flip ist Severus Snape. Und doch ist er kein verkleideter Erwachsener, der sich feige verbirgt, sondern ein unschuldiges Kind, das von nichts Bösem weiß und dem du sehr weh getan hast. So wie andere vor dir. Nichts Böses kommt von ungefähr, Harry, nicht einmal etwas so Böses wie Voldemort. Severus hätte allen Grund gehabt, böse zu werden, und doch wurde er es nicht. Ungenießbar vielleicht, aber nicht böse. So wie du es auch bis vor kurzem geschafft hast, trotz widriger Umstände ein Mensch zu bleiben, Harry. Kehr um, bevor es zu spät ist!"

Harry schluckte. "Aber ich bin jedenfalls kein Mörder", flüsterte er trotzig und heiser, bevor ihm einfiel, dass er zweimal leicht einer hätte werden können. Aber Mörder eines Mörders, galt das überhaupt? "Wie funktioniert das alles?" krächzte er.

"Ich bin eine Zeitlose", erklärte Cassiopeia, "schon davon gehört?"

Harry schüttelte stumm den Kopf.

"Wie du weißt, gibt es Magier mit speziellen Fähigkeiten", fuhr Professor Calyx fort und wirkte behutsam, als wollte sie ihn nicht überfordern. Harry nickte leicht. Er dachte an Animagi und an Tonks mit ihrer ständig wechselnden Haarfarbe. "Ich kann dir unmöglich in wenigen Worten das Wesen der Zeit erklären", warf die Direktorin ein, "soviel muss dir genügen: "Zeit ist nicht sooo sehr viel anders als Raum. Stelle dir, sehr vereinfacht gesagt, unsere Welt, wie eine Zwiebel vor, mit unzähligen Schalen. Zeitschalen. Ein gewöhnlicher Muggel oder Zauberer kann sich nur auf der dünnen, jeweils gegenwärtigen Schale bewegen. Ich habe sozusagen das Werkzeug, längs hindurchzuschneiden. Wie ein Küchenmesser. Eine sehr spezielle Magie..."

"Ich verstehe nicht", sagte Harry tonlos.

"Das musst du auch nicht", entgegnete sie lächelnd, "das kannst du auch nicht. Lass es dir genug damit sein, dass ich ganz nebenbei die Erfinderin des Zeitumkehrers bin."

Sie ließ die Worte auf Harry wirken, bis er stammelte: "Aber den gibt es schon ziemlich lange..."

"Jahrhundertelang", bestätigte sie mit einem süßen Lächeln, "ich sollte fairerweise erwähnen, dass ich einiges älter als Albus,... ich meine, Professor Dumbledore, bin. Ich wähle nur gern das Aussehen aus gerade dieser Zeitschale, das junge Äußere, du verstehst. Pure Eitelkeit! Ich könnte genauso gut dieses..." Vor Harrys Augen verwandelte sie sich in eine mumienhafte Greisin und wieder zurück. "Aber das tut nichts zur Sache. Zeit ist so viel relativer, als du denkst." Harry schwindelte der Kopf. "natürlich", fuhr sie fort, "als sei es das Selbstverständlichste der Welt, "kann ich dasselbe auch mit anderen Menschen machen: Sie zu Kindern zurückverwandeln oder vorwärts, Kinder zu Erwachsenen. Möchtest du gern wissen, wie du als Mann aussehen willst, Harry?"

Er schüttelte schwach den Kopf.

"Nun, es ist auch besser so", grübelte sie, "es wäre zu viel auf einmal." Ihr Blick wechselte plötzlich von mitleidig zu streng: "Es ist eine zu gefährliche Sache, um damit herumzuspielen! Du hast den kleinen unschuldigen Jungen Severus, den wir Flip nennen, mit seinen erwachsenen Taten konfrontiert, die er unmöglich verkraften konnte. Das ist Kindesmissbrauch der allerschlimmsten Form! Ich hoffe, das wenigstens begreifst du."

Sie richtete ihren Zauberstab auf Flips Denkarium und flüsterte: "Revario!" Der Schriftzug "Flip" verwandelte sich in "Snape", und gleichzeitig begann das Kind zu wachsen. Seine Nase und sein Haar wurden länger, seine kummervollen Augen wurden trostloser und misstrauischer. Harry hielt dem Blick des erwachsenen Snape nicht stand und wusste nicht, wer von ihnen beiden mehr Grund hatte, den anderen zu hassen. "Jetzt, wo er alles weiß, ist es besser, er ist erwachsen, damit er eine Chance hat, es zu verarbeiten", erklärte Cassiopeia, "wobei es besser gewesen wäre, er hätte mehr Zeit dazu gehabt. Viel mehr! Eine ganze Kindheit lang. Aber du hast mein mühsames Werk zunichte gemacht." Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. "Ich werde sie alle zurückholen, es hat nun alles keinen Sinn mehr. Oder ich habe keine Kraft mehr. Nenn es, wie du willst." Sie zog den Vorhang beiseite und da standen, mit fragenden Kindergesichtern, Mini, Goldie und Rufus. Harrys Blick wanderte rastlos zwischen ihnen und den restlichen drei Denkarien hin und her.

"Was geht hier ab?" schoss die vorlaute Goldie prompt los und reckte ihr Stupsnäschen, als könnte sie die Antwort erschnüffeln. Miss Calyx tippte das Denkarium des Mädchens an, seufzte noch leise: "Du würdest dich ja doch nie ändern, auch durch eine zweite Kindheit nicht" und sprach dann laut: "Revario!" Die kleine Blondine wurde wie ein Gummiband immer länger, aber wirklich reifer oder weniger zickig sah sie auch als erwachsene Frau nicht aus. "Rita Kimmkorn!" stöhnte Harry und griff sich an den Kopf, "hätte man die nicht besser so klein gelassen?" Die Reporterin sah ihn beleidigt an und zog einen Block aus der Tasche, um sich eifirg Notizen zu machen. Harry konnte sich schon vorstellen, dass in dem Artikel nichts Gutes über ihn stehen würde. Zum großen Ärger der Dame wurde sie dann von der Direktorin vor die Tür gesetzt, damit nicht alles, was in diesem Raum geschah, unweigerlich an die Öffentlichkeit kam.

Als nächstes wandte sie sich Rufus zu: "Und du? Bist du denn gar nicht neugierig zu erfahren, wer du bist?" Er schüttelte phlegmatisch den Kopf. "Dieses desinteressierte Balg", murmelte Cassiopeia, "würde sich ohnehin auch nie bessern. Revario!" Sogar das Wachsen ging bei diesem Jungen langsam und bedächtig vor sich. Achselzuckend besah er sich selbst als erwachsenen Mann, bevor er auch er aus dem Zimmer geworfen wurde. "Cornelius Fudge braucht hier auch keiner, wenn es um wichtige Dinge geht", meinte die Direktorin knapp.

Freundlich näherte sich die Zeitlose nun dem Mädchen Mini, das interessiert, aber ruhig und diszipliniert zugesehen hatte. "Du hingegen", sagte sie lächelnd, "bleibst bitte, wie du bist. Ich hatte nie vor, dich zu ändern, deine zweite Kindheit sollte nur deiner Erholung dienen. Eine Kur sozusagen, eine Reha-Kur, nach all dem. Na dann komm, liebe Mini... Minerva! Revario!" Mit großen Augen sah Harry zu, wie aus dem jungen Mädchen im Zeitraffer eine alte Dame wurde.

Ihm drehte sich der Kopf von allem, was er heute hier gesehen hatte. Er blickte zwischen Direktorin Calyx und den Professoren McGonagall und Snape hin und her. "Ich habe noch etwas mit Severus zu besprechen", sagte Cassiopeia und verließ mit ihm das Büro durch eine Hintertür, "bis ich zurück bin, hast du Gelegenheit, endlich mal wieder mit deiner Hauslehrerin zu reden, Harry. Severus, bitte komm jetzt. Für dich war es wirklich genug für heute."

Die Unterhaltung mit McGonagall war nicht allzu ergiebig. Beide waren in keiner sehr gesprächigen Stimmung. Dennoch fühlt es sich gut an, eine vertraute Person wieder um sich zu haben. Als nach einiger Zeit Cassiopeia Calyx zurückkehrte, hatte Harry seine Gedanken wieder so weit gesammelt, dass ihm eine offen gebliebene Frage eingefallen war. "Aber was ist mit dem Baby, Professor Calyx? Warum ist es nicht da, und warum ist sein Denkarium nicht hier? Ich weiß, dass es eins hat, sogar das Allergrößte!"

"Ich kann es holen", bot Cassiopeia an.

"Das Baby?"

"Nein, das Denkarium."


Sie trat hinter den Vorhang und trug behutsam die große, reich verzierte Schale zum Schreibtisch. Ungeduldig wartete Harry darauf, dass sich mit einem kurzen Schlenker ihres Zauberstabes und einem einfachen "Revario" der unsägliche Name "Sweety" ändern würde in... Ja, in wen nur? Doch so leicht wollte Cassiopeia Calyx es ihm nicht machen. "Du willst wissen, wer er ist? Sieh selber nach!" Mit diesen Worten nötigte sie ihn zum Denkarium hin. Sie wirkte nun so bestimmt, dass Harry nicht zu widersprechen wagte und in das Becken voll Erinnerungen eintauchte.

Er sah das Baby. Es lag in einer sehr altmodischen Wiege, auf einem dicken, weißen Kissen mit Spitzenbesatz. Obwohl es ein Junge war, trug es eine Art langes, weißes Kleid. Es öffnete seine großen, blauen Augen und lächelte Harry an. Dann verschwand diese Erinnerung und machte einer anderen Platz. Da war ein Junge von vielleicht zehn Jahren. Sein Haar war blond, schien aber allmählich ins Bräunliche nachzudunkeln. An den strahlend blauen Augen war er aber immer noch unschwer als "Sweety" erkennbar. Er redete mit einer Frau mit einem gütigem Gesicht, vielleicht seiner Mutter. "Freust du dich auf die Schule?" fragte sie ihn. Strahlend bejahte er: "Und wie! Ich werde bald ein groooßer Zauberer werden!" Sweety griff in einen großen Topf voll Süßigkeiten und fügte hinzu: "Aber am allermeisten freue ich mich auf meine Schultüte."

Nebel, eine neue Szene. Der Junge mit den blauen Augen saß auf einem Bett, unverkennbar in einem Schlafsaal von Hogwarts. Dem Schultütenalter war er inzwischen längst entwachsen. Sein Haar war länger und kastanienbraun geworden. Nachdenklich besah er sich im Spiegel und strich stolz über den ersten Bartflaum, der auf seinem Gesicht zu wachsen begonnen hatte.

Der nächste Nebel dauerte länger an als die vorherigen. Doch schließlich verdichtete sich das Bild wieder zu etwas Erkennbarem. Ein junger Mann lief über das Schulgelände. Harry konnte ihn nur von hinten sehen. Er hatte langes, braunes Haar. Ein Schüler kam ihm entgegen und grüßte ihn höflich: "Guten Morgen, Professor!" Der Mann nickte ihm zu. Der Junge ging zügig weiter - geradewegs durch Harry hindurch. Der Professor drehte sich kurz nach dem Schüler um, so dass Harry sein Gesicht sehen konnte. Er hatte inzwischen einen beachtlichen, braunen Bart und trug eine Brille. Schon wandte er sich wieder ab, doch Harry hatte genug gesehen. Er schrie vor Überraschung auf, und als die Schritte des Mannes sich entfernten, wollte er ihm nachrennen. Doch statt ihn einzuholen, tauchte er durch diese heftige Anstrengung aus dem Denkarium auf.

"Professor Dumbledore!" japste Harry, und als ihm bewusst wurde, dass er wieder im Büro neben den Professorinnen Calyx und McGonagall stand, bestürmte er sie in höchster Aufregung: "Es ist Professor Dumbledore! Sweety ist Albus Dumbledore! Aber wie kann das...? Er ist tot! Ich habe selbst gesehen... Snape hat..."

"Professor Snape hat was?" fragte Miss Calyx streng.

Doch Harry hatte jetzt andere Sorgen: "Das Baby, schnell! Holen Sie es! Machen Sie es wieder groß! Ich will ihn zurückhaben!"

Doch die Direktorin schüttelte den Kopf. Ihre Stimme klang jetzt eisig: "Das ist unmöglich. Was glaubst du, was ich kann? Einen Toten einfach so wieder herzaubern? So wie er war? Du solltest froh sein, dass wir Sweety haben, aber du wirst geduldig darauf warten müssen, dass er größer und älter wird."

Harry sah sie verständnislos an: "Aber Sweety lebt doch! Und Sweety ist Dumbledore!"

"Ja, aber er ist neu. Er muss ganz von vorne anfangen." Sie seufzte, als sie sich eingestehen musste, dass sie Harry völlig überforderte und erklärte nun etwas geduldiger: "Albus Dumbledore ist wirklich gestorben. Aber es gibt besondere Zauber, mit denen besondere Zauberer Vorkehrungen für den Todesfall treffen können. Du weißt zum Beispiel, dass man zu Lebzeiten dafür sorgen kann, später ein Geist zu werden, oder?" Harry nickte, wandte aber ein: "Sweety ist doch kein Geist!"

"Nein", gab sie ihm Recht, "aber es gibt noch andere Zauber, die nur sehr wenige kennen, geschweige denn beherrschen. Albus Dumbledore besitzt den Phönixzauber, der, meiner Meinung nach, noch wertvoller ist als der Stein der Weisen. Er kann damit nicht sein Leben endlos verlängern, aber wer würde das auch wollen? Mit circa hundertfünfzig Jahren kann man schon mal an den Punkt kommen, wo das eine oder andere Zipperlein einem das Leben verleidet. Was würde ein Phönix in einem solchen Fall machen?" Harry überlegte kurz, dann antwortete er: "Er würde sich verbrennen und aus der Asche neu erstehen."

"Aha! Also sterben und ein neues Leben beginnen. Aber als Küken, nicht als fertiger Altvogel. Und wer einen großen, schillernden Phönix mit heilsamen Kräften haben will, muss dann eben warten, bis er wieder herangewachsen ist."

"Sie meinen..................."

Cassiopeia nickte: "Du wirst warten müssen, bis aus dem Baby wieder ein großer Zauberer herangewachsen ist. Und ab jetzt wirst du immer der Ältere von euch beiden sein, gewöhn dich dran."

Hatte sie eben noch gütig geklungen, wurden ihr Blick und ihre Stimme nun wieder eisig, als sie befahl: "Und du wirst dir noch eine Erinnerung aus seinem Denkarium ansehen. Ich bestehe darauf!" Sie stieß ihn geradezu in das Becken.

Harry schauderte. Da war sie wieder! Die Erinnerung, die er am allerwenigsten sehen wollte! Er hatte sie vorhin für seine eigene gehalten, aber es die von Professor Snape gewesen. Nun sah er die schreckliche Szene ein weiteres Mal, doch diesmal in Professor Dumbledores Denkarium. Deshalb sah er sie auch aus einem etwas anderen Blickwinkel. Aber dieselben Personen waren auf der Bildfläche: Dumbledore, Snape, Harry, Draco. Draco hatte seinen Zauberstab zögerlich sinken lassen, aber Snapes war immer noch auf den gütigen Schulleiter gerichtet. Harry wusste, was nun unweigerlich geschehen würde und wollte es doch wieder um jeden Preis verhindern. "Nein!" wimmerte er, ohne dass die anderen ihn hören oder sehen konnten. Snape versuchte, entschlossen zu wirken, aber ein inneres Zaudern war ihm doch anzumerken. Sein Zauberstab zitterte fast unmerklich. Und dann hörte Harry Dumbledores Stimme, ganz, ganz leise. Er war sich nicht sicher, ob es ein schwaches Flüstern war oder ob er Dumbledores Gedanken hören konnte: "Tu es bitte endlich, Severus, tu es mir zuliebe!" Und laut: "Severus, bitte!" Dann der bekannte, tödliche, grüne Strahl...

Harry fühlte, wie Professor Calyx' Hände ihn aus der Erinnerung und dem Becken herausrissen. Er war sehr blass geworden und flüsterte fassungslos: "Professor Dumbledore wollte es so!"

Miss Calyx nickte: "Tja, er sagte ‚Severus, bitte, nicht ‚Severus, bitte nicht'. Er wollte sterben, Harry. Er hat sogar zuerst versucht, sich selbst zu töten. Aber einem Phönix fällt es doch leichter als einem Menschen. Du erinnerst dich an Albus' verbrannte Hand?"

Harry nickte mit einem entsetzten Stöhnen.

"Weiter kam er nicht", fuhr sie fort, "und was macht man wohl, wenn man es selbst nicht schafft?"

Harry schluckte: "Jemanden darum bitten?"

"Richtig. Und nicht irgendwen, sondern nur seinen allerbesten, vertrauenswürdigsten Freund."

Harry war den Tränen nahe. Sein ganzer Panzer aus Kälte und Gleichgültigkeit war zerbrochen. "Snape hat es ihm zuliebe getan", flüsterte er beschämt, "und ich glaube, es ist ihm nicht leichtgefallen."

"Ganz sicher nicht!" schnaubte Cassiopeia, "oder würdest du zum Spaß Ron oder Hermine töten? Aber Severus musste. Er hatte nicht nur Dracos Mutter einen Unbrechbaren Schwur geleistet, ihren Sohn zu beschützen, sondern auch Albus, ihn..."

Harry unterbrach sie: "Er hat Mrs Malfoy einen Unbrechbaren Schwur geleistet, ihren Sohn zu beschützen?"

"Oh ja", sagte Cassiopeia beiläufig, "ebenso wie deiner Mutter, dich zu beschützen."

"WAAAAS?"

"Tja. Helfersyndrom? Was weiß ich. Soviel zu Snape, aber du wusstest es ja immer besser, nicht wahr?"

"Snape hat meiner Mutter...???"

"Er hätte alles für sie getan. Er liebte Lily. Er hasst den James in dir, aber er liebt ihre Augen in deinem leidigen Potter-Gesicht. Das ist sicher nicht leicht."

Harry schluckte einen dicken Kloß im Hals hinunter. Doch Cassiopeia ließ ihm keine Zeit, das Gehörte zu verarbeiten, sondern erzählte weiter: "Jedenfalls hatte er auch Albus einen Unbrechbaren Schwur geleistet und den schwersten von allen: ihm, wenn nötig, den Tod zu geben. Er hatte es wirklich nicht leicht. Seine Aufgaben widersprachen sich teilweise gegenseitig, und hätte er nur einen der Schwüre gebrochen, wäre er jetzt tot."

An diesem Punkt mischte sich Minerva McGonagall in das Gespräch ein. Missbilligend, wie wenn sie einen Schüler tadelte, sagte sie zu ihrer neuen Vorgesetzten über deren Vorgänger: "Albus hat Severus Unzumutbares aufgebürdet! Nicht nur, dass er ihn mit einem Unbrechbaren Schwur derart belastet und gefährdet hat. Aber wie unsagbar schlimm muss es für Severus gewesen sein, den besten Freund zu töten? Ich kann nicht glauben, dass gerade Albus jemandem etwas so Furchtbares antun würde! Nur um sich selbst zu verjüngen!"

Cassiopeia Calyx schüttelte ernst den Kopf: "Nein, wäre es nur darum gegangen... Ich glaube, Albus hätte jedes Altersleiden lieber ertragen, als Severus mit noch etwas Schlimmem zu belasten. Aber es ging um weit Wichtigeres! Es war absolut unvermeidlich."

Die ratlosen Blicke von Harry und McGonagall begegneten sich. Doch Miss Calyx schien plötzlich nicht mehr in der Stimmung zu sein, weiterzuerzählen. Schweigend dachte Harry eine Zeit lang nach. "Irgendwann werden wir also wieder einen weisen, starken Dumbledore an unserer Seite haben. Aber das wird lange dauern", sagte er schließlich, "und bis dahin kann viel passieren. Voldemort kann uns alle töten. Er könnte sogar Dumbledore töten, so lange er ein schutzloses Kind ist."

"Nein", entgegnete Cassiopeia schlicht,

"Voldemort ist tot."

"Wie bitte... aber?!"

"Voldemort ist tot. Was längst überfällig war. Seine Horkruxe sind nun aufgebraucht. Zusammen mit dem letzten Horkrux ist Voldemort gestorben. Ohne diesen Tod hätte Voldemort endlos weitergelebt." Der Schrecken der Erkenntnis war Harry deutlich ins Gesicht gemalt.

"Dumbledore?"

"Ja."

"Aber Voldemort hatte Draco angeheuert, Dumbledore zu töten! Das hätte ihn ja selbst umgebracht."

"Er hat nie wirklich damit gerechnet, dass ein Bürschchen wie Draco einen großen Zauberer wie Dumbledore umbringen könnte. Er wollte nur Dracos Vater damit bestrafen. Sieh mal, Dumbledore und Voldemort waren die Größten, mit Abstand die Größten. Wohl keiner hätte vermocht, einen von beiden umzubringen, außer sie selbst sich gegenseitig. Aber Albus wollte niemanden umbringen, und Voldemort durfte Albus nicht töten, weil sein eigenes Leben daran hing. Er dachte ja damals, es besonders schlau zu machen, indem er seinen Seelensplitter ausgerechnet in dem beinahe unverwundbaren Albus unterbrachte."

Harry strahlte über das Gesicht, als er auf einmal begriff, was alles passiert war: "Voldemort ist tot! Dumbledore ist wieder da! Ich will zu ihm!"

"Moment", dämpfte Cassiopeia seine Begeisterung, "vergiss nicht: Mit Voldemort ist nicht alles Böse aus der Welt. Das Böse wird es immer geben. Kleine Kinder wie Albus werden auch in dieser neuen Welt vielen Gefahren ausgesetzt sein. Deshalb ist Sweety... ich meine, Albus, nicht mehr hier. Er wird an einem geheimen, geschützten Ort aufwachsen, bis er sich selbst und andere wieder schützen kann."

"Er ist weg?" fragte Harry maßlos enttäuscht, "bei wem ist er?" Hoffentlich nicht bei Menschen wie den Dursleys, dachte er.

"Bei dem besten und treuesten Beschützer, den man sich wünschen kann", versicherte Cassiopeia lächelnd. Sie hob das kleine Mauersteinchen auf, mit dem Flip gespielt hatte und das im Büro liegen geblieben war. "Das wird wohl für lange Zeit das Letzte sein, was wir von Severus gesehen habe. Ich freue mich darauf, dass wir sie hoffentlich eines Tages wiedersehen werden: einen Zauberer mit schulterlangem, etwas fettigem, weißem Haar und neben ihm einen starken, jungen Mann mit langem, braunem Bart."


Von Smilla, die immer an Severus Snape geglaubt hat!!! 20. Juli 2007






 

Review

 

Zurück