Das graue Sein - Oder der Fluch des Menschen als möglicher Träger einer Seele
Mein Name ist Severus Snape. Dies ist mein erster und letzter Brief an dich.
Zu dem Zeitpunkt, da ich diese Zeilen zu Papier bringe, bin ich als Professor der Zaubertränke in Hogwarts, Schule für Hexerei und Zauberei, tätig. Viel mehr weiß ich nicht über mich – Denn ich bin frei erfunden.
Es mag seltsam anmuten, diese Worte zu lesen, und eben so fühle ich mich, während ich sie auf diesem alten, befleckten Pergament niederschreibe. Seltsam verloren in einer Welt, in die ich hinein geworfen wurde von jener, die ich meine Schöpferin nenne. Wenn ich mit diesen Worten die begonnene Beschreibung meiner Person unterbreche, so tue ich das mit der Absicht, du mögest den folgenden Fakten eine ähnlich hohe Bedeutung zugestehen, wie ich es tun muß. Denn sie sind alles, was ich habe:
Wie dir natürlich bekannt ist, lehre ich zur Zeit an deiner Schule, an der ich mich für die Position des Lehrers für Verteidigung gegen die Dunklen Künste bewarb, nun jedoch die Aufgaben des Professors der Tränke und des Hauslehrers der Slytherins ausübe. Über meine eigene Schulzeit weiß man, weiß ich nur wenig. Als ich mich zum ersten Mal aufmachte, diese alten Gemäuer zu betreten, um kurz darauf in deine stets so gütigen blauen Augen zu blicken, war ich bereits vertraut mit einer Vielzahl an Flüchen, die ich unter anderem in meinen häufigen Auseinandersetzungen mit der Clique um James Potter einsetzte. Diese, bzw. bestimmte Andeutungen seitens Sirius Blacks führten eines Tages zu einem für mich beinahe tödlichen Zusammenstoß mit Remus Lupin, der sich einmal im Monat in der Heulenden Hütte in einen Werwolf verwandelte. Nach, oder vielleicht auch bereits in der Schule, trat ich dann den Anhängern des Dunklen Lords, den Todesser bei. Später wechselte ich die Seiten, fungierte als dein Spion und arbeite heute für den Orden des Phönix, auch wenn einige seiner Mitglieder bezweifeln, daß man mir trauen kann. Du tust es und das genügt.
Soviel zu meinem bisherigen Leben. Es ist nicht viel und ganz sicher erzähle ich dir damit nichts Neues. Und doch sage ich mir diese wenigen Gewissheiten immer wieder auf, weil sie alles sind, an das ich mich halten, klammern kann. Weil sie allein es sind, deren ich mir sicher sein, auf die ich vertrauen, an die ich glauben darf und kann. Dieses wenige Wissen ist mein Sein, mein einziger Schatz, den ich hüte und bewahre. Alles was ich besitze. Im Grunde ist es nichts.
Wer bin ich wirklich? Die Fakten geben mir keine Auskunft darüber, so kann ich auch diese Frage nicht beantworten. Welche Eigenschaften sind die meinen, was zeichnet mein Ich aus? Ich riskierte mein Leben als Spion. Klingt, als sei ich ein mutiger Mensch. Ist es aber auch mutig, wenn mir mein Leben nichts bedeutet? Oder wenn ich es aus gänzlich anderen, mir unbekannten, Gründen tat und vielleicht noch immer tue? Es scheint sinnlos, naiv, etwas zu tun, ohne zu wissen, warum man in dieser Weise handelt. Dennoch tue ich es.
Und ich achte den Haß - denn er ist das einzige Gefühl, dessen ich mir beinahe ganz sicher sein kann es zu besitzen. Ich hasse James und Harry Potter, hasse Sirius Black und wahrscheinlich auch mich. Dieses Gefühl, dieses eine fühlbare Zeichen meines Lebens, führt und durchströmt mich. Doch ich hasse, ohne zu wissen warum. So schätze und fürchte ich ihn, fürchte mich selbst und verabscheue mich für die Taten, die aus diesem Haß vermutlich entstanden sind, vielleicht noch immer entstehen und in Zukunft entstehen werden.
Vielleicht tue ich das. Vielleicht aber sind mir die Verbrechen gleichgültig, die ich im Namen einer Person beging, die ich noch immer Lord nenne. Vielleicht spreche ich mir die Abscheu lediglich zu, weil dies von mir erwartet wird, weil du es von mir erwartest. Und vielleicht tue ich nichts von alledem wirklich.
Zu wenig, dessen ich mir sicher sein kann. Indirekt habe ich einiges erfahren, eher gedeutet, was möglicherweise meinem wirklichen Selbst, der Wahrheit entspricht. Möglicherweise. Ich studiere die Fakten, zerpflücke sie auf der Suche nach Hinweisen, wie viele andere es tun. Manchmal denke ich, sie alle wissen mehr über mich als ich selbst. Der Gedanke macht mir Angst. Und ich bin verwirrt von all den Theorien, die ich über mich finde und höre. Viele klingen logisch, fast könnte ich daran glauben, würde ich für einen Moment vergessen, daß auch all das nur Deutungen sein können. Und so viele Widersprüche. Da scheint es einleuchtend, daß ich voll von ihnen bin – sicher ist dies ebenfalls nicht. Vielleicht ist auch alles ganz einfach. Denke ich nur zu kompliziert, weil mir meine Schöpferin diese Gedanken aufzwang, die Fähigkeit, den Fluch, sie in meinem Kopf hämmern zu hören, Tag und Nacht, ohne Chance Ruhe vor ihnen zu finde, wahrscheinlich mein Leben lang? Hätte sie nicht wissen müssen, daß dieser Schritt einer zu viel sein, daß er zu viele Fragen, zu viele Schmerzen mit sich bringen würde? Es scheint fast, als sei auch sie nicht allwissend, ihre Taten nicht von ausschließlicher Weisheit geprägt. Auf der einen Seite schwindet meine Hoffnung mit dieser Erkenntnis, doch andererseits vermag ich mir nicht vorzustellen, daß dem nicht so ist. Will nicht glauben, daß sie wußte, was sie tat, als sie mich mit diesem Fluch belegte.
So viele Fragen. Die nach meiner Herkunft, nur eine von ihnen. Jene zusammengekauerte Frau, ist sie meine Mutter? Doch wer ist dann die ferne Gestalt, jene, die mich schuf? Nein, ich nutze nicht den Begriff, zu dem all die verschiedenen und doch so ähnlichen Religionen beten. Denn nirgends las ich, daß ich an solch eine Existenz, solch einen Sinn glaube. So kann ich auch dort keine Erlösung finden, kein Verlöschen des brennenden Warum's in meinem Kopf. Keinen Weg zu mir selbst.
All die Theorien. Auch sie geben mir keine Antwort. Über manche von ihnen lache ich, über manche weine ich – denn sie verstärken meine Angst vor mir selbst, vor dem was ich tat, tue und tun werde. Sie alle stellen mich vor weitere Rätsel, die sich in die unendliche Schlange der nie Beantworteten reihen, die mich von Innen heraus mit ihren bohrenden Zähnen foltert und schließlich vernichtet. Ich habe unzählige Geschichten gehört, die man sich über mich erzählt. Manchmal verrate ich dich darin – ich kann nicht einmal beten, daß es nicht so kommen wird. Häufig liebe ich in ihnen – kann ich das? Noch klingen die Worte meiner Schöpferin in mir nach, die eine Antwort darauf gaben. Niederschmetternd, auf ewig kalte Einsamkeit verweisend. Doch wer weiß ob sie sie je sagte. Und oft hasse ich, in diesen Geschichten. Zerstöre. Leide. Sterbe schließlich – vielleicht ist es das, wonach ich mich wirklich sehne. Was ich bin.
Es gibt so viele Bilder von mir, in den Köpfen der Menschen. Sie sehen mich als Täter und Opfer, als Teufel und gefallenen Engel. Warum nur ist mein eigener Kopf so leer? Die Menschen füllen mich in ihren Geschichten mit Leben, sehen mich als real – nur ich selbst kann dies nicht.
Ich maße mir nicht an, zu wissen, was meine Schöpferin mit mir vorhat. Wie könnte ich, da sogar ich selbst mir unbekannt bin. Meine Schöpferin. Ich verehre sie. Verehre sie, weil sie es ist, an die sich all meine Hoffnung klammert. Ich verfluche sie. Verfluche sie, weil sie es war, die mich und die Ungewißheit, die Zweifel und Schmerzen schuf, ohne mich um Erlaubnis zu bitten oder zu erklären, warum sie es tat.
So kommt es, daß ich zu vieles tue, ohne die Gründe dafür zu kennen. Ich lebe, ohne zu wissen, warum. Vielleicht bin ich nichts anderes als eine Marionette in den Händen eines unbekannten Puppenspielers, meiner Schöpferin. Kann sie mich setzen, wie eine Schachfigur, ohne daß ich die Möglichkeit habe, die Richtung zu beeinflussen. Vielleicht bin ich ein unfertiges, gerade nur skizziertes Objekt, in die Welt gesetzt, ohne sich die Mühe zu machen, es zu vollenden. Eine Hülle, die man beliebig füllen kann. Gibt es kein wirkliches Ich, so daß meine Suche von Vornherein zum Scheitern verurteilt war.
Das würde vermutlich bedeuten, daß ich nicht mit einer verdorbenen Seele begann zu existieren, statt dessen geformt wurde wie ein passives Objekt, wie eine dumpfe Hand voll Ton. Beide Möglichkeiten erscheinen mir wenig anziehend, keine von ihnen weniger erschreckend und fürchterlich als die andere. Und sie lassen die Fragen bestehen. Die Frage der Schuld.
Lehrer. Todesser. Spion. Mörder. Mitglied des Ordens des Phönix. Monster. Voller Haß. Bin ich böse, ein schlechter Mensch? Bin ich fähig zu lieben, zu leben? Bin ich überhaupt?
Eines der wenigen Dinge, deren ich mir beinahe sicher sein kann, ist dein Vertrauen. Dafür danke ich dir. Aber auch wenn du hoffen magst, es sei anders, so reicht dieses Geschenk doch nicht, um die Fragen zu ignorieren, auszublenden.
Weißt du, manchmal träume ich. Träume davon, meiner Schöpferin zu begegnen. Ich komme zu ihr, und sie erlöst mich von meinen Zweifeln, erzählt mir, wie ich bin. Wer ich bin. Warum ich bin. Sie erzählt mir alles – Bis ich schließlich weiß, fühle, daß ich real bin, mich selbst spüre.
Träumen – bin ich dazu überhaupt in der Lage? Nie schrieb meine Schöpferin etwas darüber.
So muß ich annehmen, daß ich auch dies nur tue, diese Zeilen nur niederschreibe, weil jemand es mir so befiehlt, es mich schreiben läßt. Und damit verliere ich allmählich die Hoffnung, jemals ich sein zu dürfen, wer oder was das auch sein mag, eine Antwort auf all meine Fragen zu bekommen. Die Hoffnung jemals frei, jemals lebendig zu sein. So führt mein Weg ins Nichts. In den Tod.